Am 9. September 1945 endete der zweite Weltkrieg. Nicht mit der Kapitulation Deutschlands, die den Krieg in Europa schon am 8. Mai des selben Jahres beendete. Auch nicht mit der berühmten Ansprache des japanischen Kaisers per Radio, der, nach den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki und ohne das Wort Kapitulation je in den Mund zu nehmen, sich den Alliierten ergab. Nein, erst mit der Kapitulation der japanischen Truppen in China war der Krieg wirklich beendet. Es ist bezeichnend, wie wenigen Menschen außerhalb der betroffenen Länder dieser Kriegsschauplatz überhaupt bewusst ist. Dabei hatte der Weltkrieg hier begonnen, nicht mit Hitlers Überfall auf Polen, sondern mit dem zweiten japanisch-chinesischen Krieg.
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Alles halb so wild? Critical Whiteness für Jungantideutsche
Die Debatte um den theoretischen Gehalt und die praktische Ausformung des Critical Whiteness schwelt seit einigen Jahren, spitzt sicher aber infolge der Gründung von weißkritischen Gruppen (etwa an der Uni Mainz) sowie dem Einzug weißkritischer JournalistInnen in die Online-Redaktionen bürgerlich-linker Blätter wie das Missy Magazine oder der taz zu.
Wohl um dieser sich entwickelnde Frontstellung entgegenzuwirken, veröffentliche Floris Biskamp kürzlich einen Text zu Critical Whiteness und der Kritik daran. Er gibt einen angenehmen versöhnlichen Blick über die Konfliktsituation und fordert ein politisches Downsizing von Critical Whiteness einerseits und einer Aufnahme von Critical Whiteness in das Handlungs- und Theoriefeld von irgendwie Linken andererseits. Indem er erstens die Fallstricke der Komplexitätsreduktion politischen Denkens als für alle politischen Akteure vorhanden illustriert und zweitens die Hautfarbe als Faktum hervorhebt, zu dem man sich reflexiv verhalten muss, wirbt er für Verständnis gegenüber dem Privilegien-Konzept.
Zwischen Critical Whiteness und Ideologiekritik
Die Debatte wird im Text allerdings nur skizziert, ohne auf die der kontroversen Auseinandersetzung zugrunde liegenden Theorien näher einzugehen. Dies erlaubt erstens, die ideengeschichtlichen Zusammenhänge der rassistischen Black Power Bewegung und dem gegenwärtigen Critical Whiteness zu leugnen1:
„Ja, wir haben alle eine Hautfarbe und ja, diese macht einen Unterschied – freilich nicht, weil sie das Wesen der Person ausmachen würde oder weil sie mit irgendwelchen Genen verbunden wäre, aus denen sich zugleich eine bestimmte geistige Disposition ergäbe. So etwas zu behaupten wäre in der Tat rassistisch und es gab und gibt in einigen afrikanisch-nationalistischen oder Black-Power-Kontexten derartige Formen des umgekehrten Rassismus – nur mit Critical Whiteness hat es nichts zu tun.“
Zweitens erzeugt diese oberflächliche Betrachtung das Manko, dass die der Debatte zugrunde liegenden gegensätzlichen gesellschaftlichen Theorien vernachlässigt werden, obwohl sie gerade den Kern der Auseinandersetzung ausmachen. Die ideologiekritischen GegnerInnen des Critical Whiteness betonen die rassistischen Anwandlungen der AnhängerInnen eben nicht als dem Critical Whiteness fremde Erscheinungen, sondern als Resultat eines dialektischen Umschlagens eines als emanzipatorisch veranschlagten Denkstils in sein Gegenteil, und zwar: aus sich heraus. Der Rassismus ist aus Sicht der an der Kritischen Theorie geschulten Ideologiekritik dem emanzipatorischen Anspruch des Critical Whiteness immanent und die Gefahr zum Umschlagen in den Rassismus vorhanden und real. Falsch ist es also, wenn im Text mit den Gegnern des Critical Whitness Ideologkritiker gemeint und folgendes behauptet wird:
„Die reale Differenz, um die es hier geht, ergibt sich nicht aus Genen oder dem Wesen von Personen, sondern aus einer rassistischen Gesellschaft, die Differenzen systematisch produziert und reproduziert, indem Menschen aufgrund realer oder vermeintlicher äußerer Merkmale anders angesprochen und behandelt werden. […] Die Gegnerinnen der Critical Whiteness wollen die Differenz dagegen auflösen, indem sie sie ignorieren. In einer aufgeklärten Gesellschaft und in der auf diese Gesellschaft hinarbeitenden linken Szene sollen Argumente demzufolge unabhängig von der Identität und Positioniertheit der Sprecherinnen gelten, Diskriminierung soll nicht stattfinden. Jede explizite Bezugnahme auf Identität oder Positioniertheit gilt dann als Teil des Problems, auch wenn sie in kritischer Absicht vollzogen wird.“
Keinesfalls leugnen wird ideolgiekritisches Denken die Differenz der Hautfarben und die Diskriminierung konkreter Menschen auch aufgrund der unterschiedlichen Beschaffenheit ihrer Körper. Widersprechen aber wird sie jedem Versuch, die Erste Natur des Menschen mittels Sozialkonstruktivismus aufzulösen, statt sie der kritischen Auseinandersetzung mit der Gesellschaft einzugedenken.2 Weil sich aus diesem konträren Verhältnis zwischen Erster Natur und Gesellschaft sowohl ein Begriff von Rassismus wie auch von Emanzipation entwickeln, ist eine Amalgamierung von Critical Whiteness und einer von der Kritischen Theorie der Gesellschaft ausgehenden Ideologiekritik nicht ohne den Abbau der Theorie zur Halbbildung möglich.
Amalgamierung
Erst durch diese Vernachlässigung der in der Debatte gegensätzlichen Denkhaltungen wird es möglich, Critical Whiteness in ein Theorie- und Praxispotpourri einzubinden, bei der die Begründung schon fast egal ist, wenn die Handlung nur irgendwie passt. So schreibt Biskamp fast zum Schluss seines Beitrags:
„Wiederum stellt sich die Frage, was denn an dem Argument selbst so furchtbar sein soll, dass man es so energisch abwehren müsste? Diejenigen, die so scharf gegen Critical Whiteness schießen, lehnen es ja in der Regel selbst ab, wenn weiße Mittelschichtjungs sich ostentativ mit den Protagonisten von Straßenrap identifizieren oder ihren Westentaschenantirassismus in Form von Dreadlocks auf dem Kopf durch die Gegend tragen. Gegen dieselben Praktiken gibt es nun eben noch andere gute Gründe. Und diese Gründe kann man sogar vorbringen, ohne etwa HipHop oder Rastafari selbst zu verklären“
Durchaus gibt es gute Gründe, die gegen „Wursthaare“ und Westentaschenrassismus sprechen, doch diese guten Gründe sind eben nicht mit den schlechten Gründen des Critical Whiteness vereinbar – und wer es doch versucht, zeigt sich lediglich als „krampfhaft links“, wie es Paulette Gensler bezeichnete, als sie das Phänomen der Jungantideutschen in der Jungle World greifen wollte:
„Jungantideutsche betreiben Kritik als Prêt-à-porter-Mode. Ebenso wenig wie sich Kritische Theorie zu einem geschlossenen System verdichtet, das man sich als solches aneignen und als Kritik von der Stange anwenden könnte, ist sie auf der anderen Seite verträglich mit Queerfeminismus, Critical-Whiteness- beziehungsweise Black-Power-Antirassismus und diesen ganzen aktuellen geistfeindlichen Anwandlungen, die jedoch im weiteren Umfeld des eigenen Dunstkreises zumindest latent meist präsenter sind, als man es auf den ersten Blick vermutet. Solche griffigen Gebrauchstheorien popularisieren in ihrer Amalgamierung mit »antideutschen Inhalten« letztere und bringen an Sekundärliteratur geschulte Theoretiker hervor, die ausgestattet mit Halbwissen der Reihe »Theorie.org« oder ähnlichen Verballhornungen von Kritik sich nur in der Phrasendrescherei hervortun können.“
Es geht weniger darum, Biskamp Halbwissen oder Phrasendrescherei zu unterstellen oder gar in seinem Beitrag aufzudecken, als vielmehr den impliziten Adressaten des Beitrags auszumachen: Jungantideutsche, die jedes theoretische Versatzstück und jede mikropolitische Praxis – und zu mehr taugt Critical Whiteness nach Biskamps Downsizing auch nicht – in ihr Potpourri aus Bauchgefühl, Revolutionsromantik und Aphorismensammlung einbetten, um es dann kompetenzorientiert und flexibel anwenden zu können.
von K.
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1Diese ideengeschichtlichen Zusammenhänge zeigen etwa Philippe Witzmann und Thomas Maul im Artikel Plepeijische Globalperspektive. Critical Whiteness als postmoderner Nazi-Zombie auf (Bahamas 67/2013)
2Exemplarisch sei der 1997 veröffentliche und 2008 für die Bahamas von Philipp Witzmann übersetzte Artikel von Walter Benn Michaels genannt: Autobiography of an Ex-White Man. Warum Rasse keine gesellschaftliche Konstruktion ist (Bahamas 56/2008)
Solidarität und Imagepflege: Die Eingemeindung der Flüchtlingshilfe in die deutsche Ideologie
Allein im Jahr 2015 gab es über 500 Demonstrationen, Angriffe und Anschläge gegen Geflüchtete, ihre Unterkünfte oder die angeblich liberale Asylpolitik Deutschlands. Die Zahl ist erschreckend und lässt die Erinnerungen an die frühen neunziger Jahre wach werden, als AsylbewerberInnen und ehemalige VertragsarbeiterInnen der DDR auf eine deutsche Bevölkerung trafen, die einerseits vom nationalistischem Wiedervereinigungstaumel gesättigt und andererseits von Deutscher Angst im Zuge der Kapitalisierung der neuen Bundesländer überladen war. Continue reading „Solidarität und Imagepflege: Die Eingemeindung der Flüchtlingshilfe in die deutsche Ideologie“