Kritische Soziale Arbeit: quo vadis?

Anlässlich einer aktuellen Debatte ein Gastbeitrag von Michael May

Zum Anlass dieses Beitrages

Dass der im politischen und medialen Diskurs propagierte Slogan der „Systemrelevanz“ auch in einer Kampagne des Deutschen Berufsverbandes für Soziale Arbeit (DBSH)[1] aufgegriffen worden ist, hat im Kontext Sozialer Arbeit eine kontroverse Debatte angestoßen. So hat im Blog Soziale Arbeit der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit (DGSA) Anja Eichhorn[2] das „fragwürdige[] Etikett“ von „Systemrelevanz“ als ein „von außen vergeben[es], immer auch politisch motiviert[es] dahingehen problematisiert, „ob mit ihm nicht die Gefahr der Fremdmandatierung Sozialer Arbeit“ einhergehe. Demgegenüber sei „Soziale Arbeit […] per definitionem (IFSW/IASSW 2014) aber gerade für diejenigen relevant, die von sozialer Ausgrenzung oder Unterdrückung betroffen oder bedroht sind“, und ziehe „ihre Interventionsmotive häufig gerade aus den systemimmanenten Bedingungen, die zu Ausgrenzung, sozialem Ausschluss und Unterdrückung beitragen“.

Sehr viel weiter geht die vom Arbeitskreis Kritische Soziale Arbeit Hamburg (AKS HH) in Form eines „Zwischenrufs“ formulierte Kritik[3]: Vor dem Hintergrund, dass – verschärft durch die Corona-Pandemie – für immer mehr Menschen unter den gegenwärtigen Bedingungen die Existenzgrundlage schwinde, müsse Soziale Arbeit als sozialräumliche und kollektive Infrastruktur organisiert und in diesem Sinne als „systemtransformationsrelevant“ verstanden werden. In diesem Sinne appelliert der AKS HH: „Seien wir systemtransformationsrelevant und lasst uns die Krise nutzen, um alternative Ideen und Praxen zu entwickeln!“

In einem Beitrag für diese Zeitschrift haben Marcus Beisswanger und Norman Böttcher (2021) unter dem Titel „Soziale Arbeit distanzgemindert? Ein Plädoyer für systemische Irrelevanz“ sich sowohl kritisch mit der Argumentation des DSBH wie auch der des AKS HH auseinandergesetzt. Sie plädieren dabei für einen „Mut zur Selbstdistanzierung, welcher auch in der Corona-Krise dem eigenen Unbehagen an der zweiten Natur, dem ›Sozialen‹, nachzuspüren vermag, ohne dieses Unbehagen blindlings durch transformatorische Praxis auflösen zu wollen“ (ebd., S. 89). Demgegenüber müsste ihrer Ansicht nach eine „kritische (sozialpädagogische) Praxis […] erprobt werden im Bewusstsein der eigenen, systemischen Irrelevanz und der Unmöglichkeit einer umfassenden Transformation, also darüber, dass sich allein durch sie keine transformatorische oder gar revolutionäre Situation herstellen lässt“ (ebd., S. 88).

In ihrem Beitrag haben sie bereits einige Kritikpunkte vorweggenommen, die sich auch in einer kritischen Positionierung des AKS Leipzig an dem vom AKS Braunschweig/Wolfenbüttel organisierten Vernetzungstreffen vom 26./27. November 2021 unter dem Motto „Transformative Soziale Arbeit“ wiederfinden. Geleitet sind diese – wie der AKS Leipzig formuliert – von der Intention, „die gesellschaftliche Funktion der Sozialen Arbeit im kapitalistischen System zu hinterfragen und die Soziale Arbeit nicht hoch zu stilisieren“, artikuliere sich darin doch „ein verkürztes Verständnis der historisch-gewachsenen systemstabilisierenden Funktion Sozialer Arbeit“.

Da der AKS Leipzig seine Kritik explizit als Anregung verstanden wissen will, „zu den genannten Kritikpunkten ins Gespräch“ zu kommen, will ich dies gerne aufgreifen. Obwohl ich seit Jahren als ein im Bereich Forschung und Lehre Beschäftigter die Arbeit der AKS RheinMain und Frankfurt begleite, handelt es sich um meine eigene Positionierung. Diese greift ein auf Marx zurückgehendes Verständnis von Dialektik auf, welches von einem „Primat der praktischen Dialektik“ (Haug 2008, S. 30) als einer „Endlichkeitskunst“ (ebd.) ausgeht, deren „Notwendigkeit […] in der unaufhebbaren Nichtidentität von Denken und Sein“ (ebd.) gründet. Die sich „ihrem umfassenden Anspruch nach [als] eine Philosophie der gesellschaftlichen Praxis“ (Schmied-Kowarzik 2019, S. 11f.) verstehende theoretische Dialektik sieht sich im Dienste dieser praktischen, indem sie „in kritischer Analyse der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse deren strukturelle Widersprüche und destruktive Tendenzen gegenüber den in ihr tätigen Individuen aufzudecken versucht, um dadurch sowohl die Notwendigkeit einer radikalen Umwälzung in Richtung auf eine solidarische Gesellschaft aufzuzeigen“ (ebd., S. 11f.), als auch mäeutisch eine „sich und die gesellschaftlichen Verhältnisse verändernden revolutionären Praxis“ (ebd., S. 12) der „tätigen Individuen“ (ebd.) zu befördern. Es gilt dabei den „Bann der Dialektik der Aufklärung im Doppelsinn ihres Gegenstands und ihrer Denkweise, zu durchbrechen, und, sei es auch nur punktuelle und momentan, befreiende Beweglichkeit zurückzugewinnen“ (Haug 2008, S. 31) sowie Entfremdung momenthaft zu überwinden (vgl. May 2022b).

Vor dem Hintergrund, dass Beisswanger und Böttcher am Vorschlag des AKS HH „den präziseren Begriff der »Systemtransformationsrelevanz« als Maßstab für die grundlegende Veränderung aller gesellschaftlichen Sphären in Richtung auf Kooperation und Emanzipation“ kritisieren, weil auf diese Weise „nicht der Begriff des Systems als solcher kritisiert, seziert und auf seinen Sinngehalt hin analysiert, sondern durch einen Gegenbegriff ersetzt wird“ (Beisswanger und Böttcher 2021, S. 82), will auch ich mich – gestützt auf jene theoretische Dialektik – zunächst kritisch mit diesen Begriffen auseinandersetzen, zumal die beiden meinen, diesbezüglich „nicht nur auf eine verkürzte Form der Begriffsarbeit, sondern eben auch auf die besondere Bedeutung schließen“ zu können, „die der Sprache im Kontext von Gesellschaftskritik beigemessen wird“ (ebd.). Auf dieser Grundlage will ich dann jeweils meine Position zu den Perspektiven einer praktischen Dialektik Kritischer Sozialer Arbeit zur Diskussion stellen.

Zur Problematik des Systembegriffes

Geteilt wird von mir (vgl. May 2010, S. 134ff.) die Kritik von Beisswanger und Böttcher an den Systemtheorien sowohl von Luhmann als auch von Bunge, auf den sich die sog. Zürcher Schule (Staub-Bernasconi, Obrecht et al.) stützt. Auf der einen Seite kritisieren sie darüber hinaus, dass eine „theoretische Reflexion, die Gesellschafts- durch Systemkritik ersetzt, […] sich selbst in der Betriebsamkeit, aus der sie sprunghaft auszubrechen versucht“ (Beisswanger und Böttcher 2021, S. 84), verfange. Auf der anderen Seite rekurrieren sie selbst auf einen auch bei ihnen nicht hinreichend geklärten Systembegriff. Zunächst scheint es, dass sich dieser bei ihnen auf die Konstitution des bürgerlichen Sozialstaates bezieht. So kritisieren sie die „terminologische Unbestimmtheit des DBSH-Appells […] hinsichtlich […] der normativen Grundlage seiner Kritik in einem Staat, dessen Grundgesetz formal genau auf diesen einklagbaren Menschenrechten fußt“ (ebd., S. 78), auf die sich in ihm bezogen wird, wenn darin Systemrelevanz für die Soziale Arbeit nicht nur als Aufrechterhaltung des „Gesellschaftssystem in seiner aktuellen Form“ bestimmt wird, sondern mit diesem Begriff zugleich verbunden wird, „es auch dahingehend zu verändern, dass Inklusion und die Umsetzung der Menschenrechte in allen Bereichen der Gesellschaft möglich werden“[4]. Wenn Beisswanger und Böttcher daraus schließen, „dass mit der besagten Veränderung kein kategorialer system change in Bezug auf die bürgerlichen Rechtsverhältnisse intendiert ist“ (ebd.), impliziert dies ja einen Systembegriff, der zunächst einmal die Struktur des bürgerlichen Rechts fokussiert, „sozialstaatliche[] Verbürgungen als individuelle Rechtsansprüche für genau spezifizierte Tatbestände zu formulieren“ (Habermas 1981, S. 531), der sich dann aber auch noch weitergehend auf das beziehen könnte, was Nancy Fraser (1994) als juristisch-administrativ-therapeutischer Staatsapparat (JAT) analysiert hat.

Auf einen sehr viel weitergehenden und dann auch nicht mehr konkret bestimmten Systembegriff scheinen sie sich aber in ihrem Postulat zu beziehen, dass erst „wenn die (kritische) Praxis und ihre Reflexion konsequent darauf ausgerichtet sind, irrelevant für das bestehende System zu sein, […]  durch diese Distanz eine angemessene Form der Gesellschaftskritik möglich [werde]. Diese kritische Praxis dürfte dabei jedoch nicht ausblenden, dass das System weder unmittelbar noch ohne weitere Beschädigung seiner Subjekte, für die es in der Transformationsphase mehr denn je der social bzw. care work bedarf, überwindbar ist. Da Soziale Arbeit ohne Reflexion bestehender Praxis und ohne Systemabhängigkeit keine wäre, ist sie per se bestenfalls ein Reformprojekt, wenngleich ein notwendiges. Und darin liegt die Wahrheit des Begriffs der Systemtransformation“ (Beisswanger und Böttcher 2021, S. 88).

Vor dem Hintergrund ihrer Kritik an einer „theoretische[n] Reflexion, die Gesellschafts- durch Systemkritik ersetzt“ (ebd., S. 84), und ihre verschiedentlichen Bezugnahmen auf Adorno könnten sie sich dabei auf dessen Begriff von Gesellschaft beziehen „als ein System, das sie [die Menschen M.M.] nicht bloß umklammert und deformiert, sondern noch in jene Humanität hinabreicht, die sie einmal als Individuen bestimmte“ (Adorno 1986a, S. 169). Adorno beansprucht damit, „auf Strukturen der Gesellschaft rekurrieren zu können, die […] dem System der Gesellschaft selber entnommen sind oder das System der Gesellschaft selber treffen, und die nicht etwa durch das szientifische Bedürfnis und die szientifische Organisation hervorgebrachte Systematisierungen oder Ordnungsschemata sind“ (Adorno 1986e, S. 581). Von entscheidender Bedeutung für Adorno ist in diesem Zusammenhang das Tauschverhältnis, welches aus seiner Perspektive „das objektiv gültige, vom Bewußtsein der einzelnen ihr unterworfenen Menschen ebenso wie von dem der Forscher unabhängige Modell alles gesellschaftlich wesentlichen Geschehenden“ (Adorno 1986b, S. 209) liefere. Vor diesem Hintergrund ist es für Adorno das Tauschverhältnis, welches dem System von „Gesellschaft als Synthesis eines atomisierten Mannigfaltigen, als reale, doch abstrakte Zusammenfassung eines keineswegs unmittelbar, ›organisch‹ Verbundenen, […] in weitem Maß mechanischen Charakter [verleiht]: es ist seinen Elementen objektiv aufgestülpt“ (Adorno 1986c, S. 321).

Zweifellos hat das Tauschverhältnis weite Teile gesellschaftlichen Lebens bis hinein in die Intimbeziehungen überformt. Und selbst die sozialstaatlichen Erbringungsverhältnisse Sozialer Arbeit wurden der Tauschlogik unterworfen – besonders prägnant im Rahmen der den aktivierenden Sozialstaat (Dahme und Wohlfahrt 2005; Dollinger und Raithel 2006) kennzeichnenden neoliberalen Maxime des Forderns und Förderns. Allerdings lassen sich nicht alle menschlichen Verkehrsformen der Tauschlogik unterwerfen. Und dies betrifft, neben Formen gemeinsamer, lustvoller Verausgabung vor allem heute unter dem Care-Begriff (vgl. May 2014) zusammengefasste Sorge-Praxen (z. B. gegenüber Kindern und Pflegebedürftigen) und auch viele darunter subsumierte Bereiche professioneller Sozialer Arbeit.

Nun verwendet Adorno den auf gesellschaftliche Verhältnisse bezogenen System-Begriff keineswegs konsistent – bis dass er „trotz der totalen Vergesellschaftung der Gesellschaft, den Versuch, sie als einstimmiges System zu konstruieren, überaus fragwürdig“ (1986f, S. 167) bezeichnet, werde doch die „anwachsende Irrationalität der Gesellschaft selbst, wie sie in den Katastrophendrohungen heute, dem offenbaren Potential der Selbstausrottung der Gesellschaft, sich manifestiert, […] unvereinbar mit rationaler Theorie. Diese kann kaum länger mehr die Gesellschaft bei einem Wort nehmen, das sie selber nicht mehr spricht“ (1986f, S. 167). Und auch seine diesbezüglichen Anschlüsse an Marx sind nicht immer unproblematisch:

Zwar finden sich diverse Formen der Rezeption der Marxschen Kapitalanalyse, die Schmied-Kowarzik (2022) jüngst noch einmal zu systematisieren versucht hat. Dabei sieht er bei den von ihm unterschiedenen „drei Varianten – der empirisch-pragmatischen sowie der strukturalen bzw. dialektischen Marx-Lektüre – […] die eigentliche Pointe der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie verloren [gehen], nämlich im Verfolg der Wertlogik des Kapitals ex negativo aufzuweisen, dass diese strukturell die Negation der arbeitenden Menschen und der Natur betreibt, obwohl sie doch ohne beide nicht zu sein vermag“ (ebd., S. 11). Wie er überzeugend herausarbeitet, ist diese „Argumentation ex negativo […] als Kritik nur deshalb möglich, weil sie – wie Marx in seinen philosophischen Frühschriften grundlegend dargestellt hat – selbst in der gesellschaftlichen Praxis gründet und sich als ein Moment im Dienste der emanzipativen Praxis versteht, durch die die arbeitenden Menschen die Negativität der wertökonomischen Logik des Kapitals durchschauen und deshalb vereinigt durchbrechen können“ (ebd.).

Adorno schließt daran an, wenn er im Hinblick auf einen über das Tauschverhältnis hinausgehenden, auf die Warenproduktion der Gesellschaft bezogenen Systembegriff vorsichtig formuliert: „Es sieht aus, als ob der Begriff der Anarchie bei Marx in einem durchaus kritischen Sinn verwandt wurde […]. Aber dahinter steht die Vorstellung von der Anarchie der Warenproduktion, also von einem Zustand, in dem die Menschen den über sie ergehenden gesellschaftlichen Gesamtprozeß als ein für jeden Einzelnen Blindes und Zufälliges erfahren. Die Idee hinter der Kritik einer solchen Anarchie ist die einer Kritik an dem über die Menschen herrschenden System“ (1986e, S. 583). Allerdings betont Marx (1983, S. 416f.), dass dieses spezifische „System des Austauschs“ (ebd.) – die „auf dem Tauschwert basierte Produktion und das auf dem Austausch dieser Tauschwerte basierte Gemeinwesen“ (ebd.), welches „die Trennung der Arbeit von ihren objektiven Bedingungen“ (ebd.) „unterstellt und produziert“ (ebd.) – nicht getrennt davon betrachtet werden könne, „wie es sich an der Oberfläche selbst zeigt, als selbständiges System“ (ebd.). Dies sei „bloßer Schein, aber ein notwendiger Schein“ (ebd.).

Angesichts dessen, dass Marx – nicht zuletzt in seinem Kapital – jenen Schein dadurch entlarvt hat, dass er „diese der kapitalistischen Produktion eigentümliche und sie charakterisierende Verkehrung, ja Verrückung des Verhältnisses von toter und lebendiger Arbeit“ (Marx 1977, S. 329) herausgearbeitet hat, handelt es sich um eine glatte Verdrehung, wenn Adorno (1986d, S. 390) es als eine „Einsicht von Marx“ (ebd.) unterstellt, dass „das System das Proletariat produziere […]. Die Menschen sind, vermöge ihrer Bedürfnisse und der allgegenwärtigen Anforderungen des Systems, wahrhaft zu dessen Produkten geworden: als ihre eigene erfassende Verdinglichung“ (ebd.). Denn hatte Marx (1990, S. 520) in seinen Pariser Manuskripten zunächst „den Begriff der entäußerten Arbeit (des entäußerten Lebens) aus der Nationalökonomie als Resultat aus der Bewegung des Privateigentums gewonnen“ (ebd.), zeigt er schon hier in seinen sogenannten Frühschriften, dass „wenn das Privateigentum als Grund, als Ursache der entäußerten Arbeit erscheint, es vielmehr eine Konsequenz derselben ist“ (ebd.), was er dann in seinem Spätwerk – dem Kapital – entsprechend wertformanalytisch ausgearbeitet hat.

So ist die lebendige Arbeit, die das Kapital als – wie Marx es dechiffriert – tote Arbeit zu seiner Verwertung bedarf, kapitalistisch nicht herstellbar (vgl. May 2004a), weshalb sich als ein zentrales Element der Herstellung der Ware Arbeitskraft dann auch die sozialstaatlich gerahmte Soziale Arbeit herausbildete. Vor diesem Hintergrund kann nur insofern von einer „Produktion des Proletariates“ als aktiver und passiver Verproletarisierung gesprochen werden, dass jener kapitalistische „Prozess der Vergesellschaftung durch die Herstellung der Warenförmigkeit der Arbeitskraft nicht ohne staatliche Politik, Sozialpolitik im weiten Sinne, möglich war und ist“ (Schaarschuch 2019, S. 259). Selbst wenn die als Lohnarbeit organisierte, professionelle Soziale Arbeit – worauf sowohl Beisswanger und Böttcher, wie auch der AKS Leipzig verweisen – zunehmend einer formellen Subsumtion unter das Kapital unterworfen ist, lässt sie sich darunter aber nicht reell subsumieren: weder von ihrem Gegenstand der (Re-)Produktion lebendigen Arbeitsvermögens her, noch, dass sie direkt einen relativen Mehrwert zu produzieren vermag (vgl. May 2014). Aus dieser Widersprüchlichkeit lassen sich – wie noch zu zeigen sein wird – auch Ansatzpunkte für eine praktische Dialektik Kritischer Sozialer Arbeit gewinnen.

Um auf den System-Begriff zurückzukommen, ist jedoch noch einmal festzuhalten, dass Marx mit seinem Kapital keineswegs beansprucht, eine Analyse des kapitalistischen Gesellschaftssystems vorzulegen, sondern „nur die innere Organisation der kapitalistischen Produktionsweise, sozusagen in ihrem idealen Durchschnitt, darzustellen“ (Marx 1978a, S. 839). Dabei geht es ihm um eine „immanent in der Logik des Kapitals argumentierende kritische Aufdeckung ihrer prinzipiellen Widersprüche“ (Schmied-Kowarzik 2019, S. 87), um – „sich streng an die gedanklichen Prämissen der bürgerlichen Ökonomie“ (Schmidt 2018, S. 53) haltend – „die Widersprüche zwischen diesen Prämissen und der gesellschaftlichen Wirklichkeit (als gedachter) und durch sie hindurch die objektiven Widersprüche der gesellschaftlichen Wirklichkeit selbst“ (Schmidt 2018, S. 53) zu analysieren. Entsprechend betont er, dass „bei dem Gange der ökonomischen Kategorien immer festzuhalten [ist], daß, wie in der Wirklichkeit, so im Kopf, das Subjekt, hier die moderne bürgerliche Gesellschaft, gegeben ist, und daß die Kategorien daher Daseinsformen, Existenzbestimmungen, oft nur einzelne Seiten dieser bestimmten Gesellschaft, dieses Subjekts, ausdrücken“ (Marx 1961, S. 637).

Zwar fallen für Marx „Familie, Staat, Recht, Moral, Wissenschaft, Kunst etc.“ (Marx 1990, S. 537) als „nur besondre Weisen der Produktion […] unter ihr allgemeines Gesetz“ (ebd.). Entsprechend kritisiert er diese auch als „entfremdete Wirklichkeit der menschlichen Vergegenständlichung, der zum Werk herausgebornen menschlichen Wesenskräfte“ (ebd.) und sieht in ihnen „darum nur de[n] Weg zur wahren menschlichen Wirklichkeit“ (ebd.). Allerdings postuliert er, dass bevor nicht alle Produktivkräfte entsprechend entwickelt sind, eine Gesellschaftsformation nie untergehen werde, und nur dann an deren Stelle neue höhere Produktionsverhältnisse träten, wenn „die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind“ (Marx 1983, S. 203). So sieht er „die neuen Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse sich […] innerhalb und gegensätzlich gegen vorhandne Entwicklung der Produktion und überlieferte, traditionelle Eigentumsverhältnisse“ (ebd.) herausbilden.

In Weiterführung dieser Überlegungen von Marx’ theoretischer Dialektik hat Lefebvre gezeigt, wie jede „menschliche Tätigkeit, die in der gesellschaftlichen Praxis bestimmte Form angenommen hat […] sich in Werken [verwirklicht], deren jedes das Ergebnis einer momentanen Totalisierung ist, einer Totalisierung durch Vorherrschaft dieser oder jener Tätigkeit (ästhetischer, juristischer oder legislativer, wissenschaftlicher, philosophischer oder gar spielerischer oder poetischer oder sonstiger Art), mithin durch Vorherrschaft dieser oder jener Repräsentation. […] Und genau dadurch erweist sie sich als partiell“ (1977 Bd. III, S. 8f.). Dargestellt hat er dabei jedoch nicht nur, wie jede dieser „Aktivität, die sich selbständig macht, […] dazu [neigt], sich als System, als »Welt« zu konstituieren“ (Lefebvre 1975, S. 18), verbunden mit der Gefahr, dass jene „von den Systemen angestrebten realisierenden oder totalisierenden Bestimmungen […] in dieser approximativen und darum formbaren »Welt« […] dem »Wirklichen« eine neue, fast vollendet, nahezu endgültige Form aufzwingen und es in dieser Form zum »Wirklichen« konstituieren“ (ebd., S. 352). Zugleich hat er aufgezeigt, wie „diese systematische Form stets ein Residuum übrigläßt“ (ebd.) als „Ablagerungen jener Systeme, die verbissen, aber erfolglos bemüht sind, sich zu Totalitäten zu erheben, sich zu »mondialisieren«“ (ebd., S. 334).

Im Anschluss an Lefebvre habe ich einen Vorschlag zur Diskussion gestellt (vgl. May 2021, 172ff.), wie auch die theoretisch und praktische Dialektik Kritischer Sozialer Arbeit dazu beitragen kann,die herrschaftlich blockierten objektiven Möglichkeiten solch Residualem durch (An-)Erkennung ihres essentiellen Charakters zur Wirklichkeit herauszuarbeiten, „im Gegenzug zu der Macht oder Kraft, die es niederdrückt und dabei ungewollt herausstellt“ (Lefebvre 1975, S. 335). Lefebvre sieht im Residualen nicht nur die Potenz, dass es die jeweiligen „Systeme, die es aufsaugen wollen, von innen zerstört“ (ebd.), sondern über eine „Versammlung der Residuen“ (ebd., S. 334) – in der ich eine zentrale Aufgabe der theoretischen und praktischen Dialektik Kritischer Sozialer Arbeit sehe – „poietisch in der Praxis ein realeres und wahreres (universaleres) Universum zu schaffen, als es die »Welten« der spezialisierten Potenzen sind“ (ebd., S. 18).

Zum Transformationsbegriff

Als praktische Dialektik könnte dies in gewisser Weise auch unter den Transformationsbegriff gefasst werden, wenn „Trans“ und „Formation“ als die beiden Bestandteile dieser Kategorie ernst genommen werden. So gilt es doch, die Form der Residuen zu „verändern: durch Konvergenz und Kampf gegen die Systeme, von denen sie ausgestoßen und durch den Ausstoß bestimmt werden“ (Lefebvre 1975, S. 336), damit sie sich im Zuge ihre Anerkennung „umwandeln: auf daß jedes einzelne wieder die Würde und Kraft einer Essenz erlange, jener Essenz, die von derselben Macht, die sie zerstören wollte, überhaupt erst hervorgetrieben wird“ (ebd.). Vor diesem Hintergrund fügt auch – wie Lefebvre betont – diese Art von „»Setzen« auf die Residuen […] ihnen nichts hinzu“ (ebd., S. 335). Damit korrespondiert ein Verständnis von Transformation als „intentionaler, eingreifender, gestaltender und zugleich […] eigendynamischer, organisch-evolutionärer Entwicklungsprozess […], der immer auch Kontinuität einschließt“ (Reißig 2009, S. 34).

Dies meint aber etwas völlig anderes, als Beisswanger und Böttcher mit ihrer Unterscheidung zwischen „Intervention als ›Eingriff‹ in das Bestehende, also ganz im Sinne Benjamins (2010) als Notbremse für laufende Prozesse“ (2021, S. 84f.), und Transformation, wobei sie letztere dadurch charakterisiert sehen, dass sie „primär eine Veränderung dieser Prozesse mit sich“ (ebd.: 85) bringe, „ohne sie jedoch unterbrechen zu wollen“ (ebd.). Wenn sie plädieren, „zunächst am disruptiven Moment der Intervention festzuhalten, eben weil sie (zunächst) keine konstruktive Lösung in Hinblick auf den kapitalistischen Normalvollzug bietet“ (ebd.), korrespondiert dies in hohem Maße mit der von Lefebvre (1972, S. 256) eher nur skizzenhaft umrissenen Strategie einer sozio-analytischen Intervention. Diese habe ich (vgl. May 2019, 2021) als ein zentrales Element einer praktischen Dialektik Kritischer Sozialer Arbeit auszuarbeiten versucht, die danach trachtet, Entfremdung im Zuge der Emanzipation menschlicher Sinnlichkeit zu überwinden . Demnach ist eine Dissoziation der „mit einer falschen Evidenz vermischten Aspekte der Alltagssituation an einem Ort und in einer Zeit“ (Lefebvre 1972, S. 256) zunächst notwendige Voraussetzung, um eine selbstregulierte Assoziation der „bis dahin äußeren Erfahrungen“ (ebd.) zu ermöglichen.

Diese „bis dahin äußeren Erfahrungen“ (ebd.) stellen aus meiner Perspektive die Basis jener „Kontinuität“ dar, die Reißig als ein Charakteristikum des mit dem Transformationsbegriff gefassten Formenwandels hervorhebt. Sie beziehen sich vor allem darauf, dass heute über kulturindustriell vororganisierte Lebensstile zwar auch ein Stück Arbeitsteilung der Sinne rückgängig gemacht wird. Allerdings werden dabei nach wie vor (Arbeits-)Vermögen und Lebenseigenschaften aufgetrennt in denjenigen Teil, der sich in solchen gesellschaftlichen Repräsentationen verobjektiviert, die nicht nur die Funktion haben, das Individuum zu „normalisieren“ (Lefebvre 1977 Bd. II, S. 69), sondern auch ihrem Alltagsleben ein „Minimum von Einheitlichkeit und Kohärenz“ (ebd.) zu verleihen, sowie einen residualen Teil, der sich so gerade nicht frei zu verwirklichen und zu assoziieren vermag, weshalb auch zunächst eine Dissoziation solcher gesellschaftlichen Repräsentationen notwendig ist.

Lefebvres Begriff von „bis dahin äußeren Erfahrungen“ (1972, S. 256) verweist damit auch auf das schon erwähnte Marxsche Postulat, wonach „die neuen Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse sich […] innerhalb und gegensätzlich gegen vorhandne Entwicklung der Produktion und überlieferte, traditionelle Eigentumsverhältnisse“ (1983, S. 203) herausbildeten. So stellt für Marx die Produktion auf Basis der Tauschwerte eine notwendige Voraussetzung dar, dass „universal entwickelten Individuen, deren gesellschaftliche Verhältnisse als ihre eignen, gemeinschaftlichen Beziehungen auch ihrer eignen gemeinschaftlichen Kontrolle unterworfen sind“ (ebd., S. 95), da diese Form der Produktion „mit der Allgemeinheit der Entfremdung des Individuums von sich und von andren, aber auch die Allgemeinheit und Allseitigkeit seiner Beziehungen und Fähigkeiten erst produziert“ (ebd.).

Eingespannt in die (Re-)Produktion dieser für die Produktionsweise des fortgeschrittenen Kapitalismus erforderlichen „Allgemeinheit und Allseitigkeit“ (ebd.) der „Beziehungen und Fähigkeiten“ (ebd.) eines Individuums ist auch die Soziale Arbeit. Mit Beisswanger und Böttcher sowie dem AKS Leipzig stimme ich überein, dass unter den gegebenen Verhältnissen ihre zentrale Funktion im Hinblick auf die (Re-)Produktion der Ware Arbeitskraft darin besteht, Individuen dabei zu unterstützen, die sich zuspitzenden Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise so zu verarbeiten, dass die kapitalistischen Produktionsverhältnisse nicht gefährdet werden. Eine in Form der Lohnarbeit organisierte und formell unter das Kapital subsumierte Soziale Arbeit hätte auch jenseits des vom AKS HH propagierten Appells, „die aktuell geltenden Regeln aus guten Gründen [zu] brechen und alternative Handlungsweisen [zu] erfinden“, nur wenig Möglichkeiten, als Kritische in skizzierter Weise eine Anerkennung und Versammlung der Residuen zu befördern.

In dieser Hinsicht zielt für mich der Begriff „systemtransformationsrelevant“ des AKS HH, insofern er sich auf eine Organisation Sozialer Arbeit als „gesellschaftliche Infrastruktur“ bezieht, auf nichts weniger als einen „kategoriale[n] system change“ (Beisswanger/Böttcher 2021: 78) des Juristisch-Adminstrativ-Therapeutischen Staatsapparates. Die Organisation von Sozialer Arbeit in Form einer solchen Infrastruktur, wie sie auch jetzt schon Kontur gewinnt in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, aufsuchenden Ansätzen und der Gemeinwesenarbeit, in Familien- und Kulturzentren, Mehrgenerationen- und Nachbarschaftshäusern in Verbindung mit einer kooperativen Teamstruktur, wie sie darüber hinaus im „Zwischenruf“ des AKS HH angesprochen wird, stellt aus meiner Perspektive eine notwendige, allerdings keineswegs hinreichende Bedingung der Möglichkeit dar, Kritische Soziale Arbeit zu leisten. Ich sehe sie in Verbindung mit der seit längerem diskutierten Programmatik einer „Sozialpolitik als Infrastruktur“ (Hirsch et al. 2013; Widersprüche Redaktion 2005), bei der es – präziser formuliert – um „Sozialstaatlichkeit als Bereitstellung einer sozialen Infrastruktur“ (May 2013, S. 188) geht.

Wenn mit dieser Programmatik der Anspruch einer „Sozialen Infrastruktur, die von Lohnarbeit unabhängig ist“ (Steinert 2013), verbunden wird, droht jedoch übersehen zu werden, dass in einer kapitalistischen Gesellschaft – wie dies schon Manuel Castells (1977, S. 286ff.) überzeugend herausgearbeitet hat und wie auch Beisswanger und Böttcher sowie der AKS Leipzig argumentieren – selbst Formen „kollektive[r] Konsumtion, […] deren ökonomische und gesellschaftliche Behandlung nicht über den Markt, sondern durch den Staatsapparat erfolgt, […] kapitalistisch bleibt“ (Castells 1977, S. 286). Denn sie umfasst eben nicht nur „im Wesentlichen den Reproduktionsprozeß der Arbeitskraft“ (ebd., S. 288), sondern auch „den Reproduktionsprozeß der gesellschaftlichen Verhältnisse, die […] mit der Reproduktion der Arbeitskraft verknüpft sind“ (ebd.) und die in einer kapitalistischen Gesellschaft notwendigerweise kapitalistisch überformt sind. Darüber hinaus hat Castells gezeigt, dass die sozialstaatlich vorgehaltenen Güter und Dienstleistungen kollektiver Konsumtion nicht deshalb zu solchen werden, „weil sie eine wesentliche Qualität besäßen, sondern wegen der spezifischen und allgemeinen Interessen des Kapitals“ (ebd., S. 287) – vor allem aber aus dem Grund, weil sie sich nicht kapitalistisch verwerten lassen, was Beisswanger und Böttcher sowie der AKS Leipzig übersehen.

Deshalb spricht Wolfgang Streeck diesbezüglich in seinem Vorwort für die deutsche Ausgabe des gegenwärtig sehr gehypten Plädoyers des Foundational Economy Collective (2019) „Für eine neue Infrastrukturpolitik“ geradezu paradox anmutend von einem „alltäglichen Kommunismus, der unserem alltäglichen Kapitalismus unterliegt und ihn faktisch überhaupt erst ermöglicht“ (2019, S. 7). Ohne dass sie deshalb schon mit dem reißerischen Etikett eines „alltäglichen Kommunismus“ versehen werden müsste, lässt sich aus einer an Marx anschließenden formanalytischen oder formgenetischen Perspektive bezüglich sozialer Infrastruktur allerdings „ein Formunterschied […] zur industrie- oder kapitalwirtschaftlichen Warenproduktion“ (Müller 2020, S. 10) konstatieren. Wie Alfred Sohn-Rethel hervorhebt, ist der „essenzielle Unterschied der Marxschen von aller andren Denkweise […], daß sie die Form als untrennbaren Teil der raumzeitlichen Seinsweise begreift, in der sie selbst sich wandelt und entwickelt“ (2018a, S. 137), worauf auch mein Verständnis von Transformation beruht. Marx hat dies „am Leitfaden der Formbestimmtheit des Wertbegriffs oder am Leitfaden der »Wertform«“ (Sohn-Rethel 2018b, S. 41) für die Warenproduktion durchexerziert.

Hat Sohn-Rethel die Bedeutung von Marx’ dialektischem Ansatz einer formgenetischen Erklärung im Hinblick auf eine Kritik nicht allein von falschem Bewusstsein, sondern darüber vermittelt auch von falschem Sein dahingehend charakterisiert, dass sie „vor allem die Springpunkte der Seinsveränderung aufdeckt“ (Sohn-Rethel 2018b, S. 38), so lassen sich im Anschluss an Horst Müller solche „Springpunkte“ gerade in der Form sozialstaatlicher Infrastruktur bzw. – wie er es übergreifend nennt – sozialwirtschaftlicher Dienste entdecken. Er selbst sieht in der Sondierung solcher „kritische[n] Knotenpunkte der Systemverhältnisse“ (Müller 2021, S. 491) eine zentrale Aufgabe seiner „Praxisform- und Transformationsanalytik“ (ebd.). Mit seinem Begriff formationelle Widersprüchlichkeit zielt er dabei auf eine in diesem Formunterschied sozialwirtschaftlicher Dienste zur kapitalistischen Warenproduktion „mehr oder weniger latent bereits mitprozessierende, andrängende Alterität und Alternative“ (ebd., S. 439), welche allerdings „inmitten der allgemeinen Instabilität, der aufbrechenden Konfliktpotentiale, des verwirrenden und ambivalenten Charakters der Phänomene nahezu unsichtbar“ (ebd.) bliebe.

Um das in sozialer Infrastruktur angelegte transformatorische Potenzial zu verwirklichen und „eine entschiedene sozialzivilisatorische Emanzipation der sozialwirtschaftlichen Dienste zu ermöglichen“ (Müller 2020, S. 18), plädiert er für eine „Kapital- oder besser Kapitaltransfersteuer“ (ebd.). Diese eröffne aus Müllers formanalytisch „entwickelte[r] reelle[r] Perspektive einen Zugriff auf real existierende Werte“ (2021, S. 523), die ohne diese „im Kapitalbestand der Warenwirtschaft unsichtbar und unverrechnet“ (ebd.) blieben, bilde doch „der Verbrauch an ‚konstanten‘ Werten der sozialwirtschaftlichen Dienste, die in deren eigenes Wertprodukt bzw. ihre Leistung eingehen, einen in der Domäne der Industriewirtschaft zunächst nicht sichtbaren und von den Industriewirten auch nicht veranschlagten Wertbestandteil“ (ebd.). Wenn – wie von ihm idealtypisch angenommen – „der Lohnfonds und die Sachkapitalausstattung der sozialwirtschaftlichen Dienste […] aus der proportional gestalteten Einkommen- und Kapitaltransfersteuer geschöpft und diese mehr oder weniger öffentlich finanziert werden“ (ebd., S. 527), handelt es sich seiner Auffassung nach sogar unmittelbar um eine Form des „Gemeineigentum[s] an den Produktionsmitteln“ (ebd.).

Dennoch schlösse selbst eine so finanzierte soziale Infrastruktur nicht aus, dass Fachkräfte der Sozialen Arbeit in ihr lohnarbeitsmäßig beschäftigt würden und Nutzende – noch weniger als diese – Einfluss auf deren Ausgestaltung ausüben könnten. Ein Gemeineigentum an Produktionsmitteln als Grundlage dessen, dass in der tätigen Praxis der Individuen „ihre eignen, gemeinschaftlichen Beziehungen auch ihrer eignen gemeinschaftlichen Kontrolle unterworfen sind“ (1983, S. 95), wie das Marx vorschwebte, setzte voraus, dass eine solche soziale Infrastruktur genossenschaftlich organisiert wäre, wie dies Timm Kunstreich (vgl. 2015, 2017) bereits beispielhaft skizziert hat. Erst auf dieser Basis könnte es gelingen, sowohl die Trennung der in einer solchen Infrastruktur professionell tätigen als auch der sie nutzenden Individuen vom menschlichen Gemeinwesen aufzuheben, das Marx gefasst hat als „das Leben selbst, das physische und geistige Leben, die menschliche Sittlichkeit, die menschliche Tätigkeit, de[n] menschliche[n] Genuß, das menschliche Wesen“(1978b, S. 408). Aus meiner Perspektive erforderte dies getrennte Genossenschaften von Professionellen und Nutzenden. Kunstreichs Idee, dass Professionelle „eine eigene professionelle Sozialgenossenschaft gründen, um mit den […] Quartiers- oder Projektgenossenschaften entsprechende Verträge abzuschließen“ (2015, S. 90f.) lässt sich dann dahingehend weiterdenken, dass dieser Vertrag auch ein Mandat einer allparteilichen Moderation der Fachkräfte für alle Residuen beinhaltet (vgl. May 2017, S. 154ff.).

Während ich gegenwärtig für die Realisierungvon Müllers Finanzierungsvorschlag (noch?) keine politische Mehrheit sehe, halte ich die Umsetzung einer solchen genossenschaftlichen Organisation für wahrscheinlicher – nicht zuletzt, weil sie effektiver und effizienter ist, da all die – in der Rede von einer Ökonomisierung Sozialer Arbeit übersehenen – riesigen, unproduktiven Kontrollapparate wegfielen, läge doch die Kontrolle bei den Genoss*innen selbst. Durchsetzbar halte ich sie einerseits in Räumen, die aktuell für die Verwertungsprozesse des Kapitals uninteressant geworden sind und mit Menschen, die Marx als Überschussarbeiterbevölkerung (1977, S. 661), Bauman (2006) noch drastischer als Überflüssige und Beisswanger und Böttcher als „durch Lohnarbeit nicht verwertbare[] Körper“ (2021, S. 87) bezeichnet haben. Solche Räume und Körper lassen sich also als Residuen großen Maßstabs betrachten. Statt dem nahezu aussichtslosen Unterfangen, solche Menschen begleitet durch Soziale Arbeit wieder über zahlreiche Maßnahmeschleifen für den sog. 1. – kapitalistischen – Arbeitsmarkt zu qualifizieren, weil sie da ja nicht gebraucht werden (weshalb solche Maßnahmen zynisch sind, weil sie ja implizieren, dass es an ihrer Qualifikation läge, dass sie nicht mehr gebraucht werden), und durch staatliche Investitionen den Raum wieder attraktiv für das Kapital zu machen, ließen sich stattdessen mit ihnen genossenschaftlich Projekte einer Gemeinwesenökonomie (vgl. Elsen 2011; May 2004b, 2022a) realisieren. Auch hier spricht eine volkswirtschaftliche Rechnung für solche Projekte.

Nun argumentieren Beisswanger und Böttcher, dass „nicht nur Wohnungslose oder Adressat*innen der akzeptierenden Drogenhilfe […] möglicherweise in der krisenbedingten Verknappung von finanziellen Ressourcen als irrelevant [erscheinen], sondern auch die damit verbundenen Angebote der Sozialen Arbeit“ (2021, S. 87). In meiner langjährigen Erfahrung, die ich hier einmal unter dem Begriff Praxisforschung zusammenfassen will, hat sich jedoch gezeigt, dass die durch solche Gruppen ausgelösten Konflikte, ebenso wie diejenigen, welche in den von der kapitalistischen Entwicklung abgehängten Räumen unter den verschiedenen Gruppen der Überschussarbeiterbevölkerung eskalieren, ordnungspolitisch nicht wirklich beherrschbar sind. Dies hat mir immer wieder in meiner beruflichen Geschichte ermöglicht, in die skizzierte Richtung gehende Projekte mit diesen Gruppen finanziert zu bekommen.

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Anmerkungen

[1] Stellungnahme (dbsh.de) zuletzt abgerufen am 11.11.2022

[2] Soziale Arbeit und die Systemrelevanz – Kritische Gedanken über ein fragwürdiges Etikett – DGSA Blog Soziale Arbeit zuletzt abgerufen am 11.11.2022

[3] Soziale Arbeit: systemrelevant? – Soziale Gerechtigkeit in einem demokratischen Land (jimdofree.com) zuletzt abgerufen am 11.11.2022

[4] Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang darauf, dass Staub-Bernasconi (2008) Sozialer Arbeit als Menschenrechtsprofession über Obrechts (1998) Theorie der Bedürfnisse zu begründen versucht (zur Kritik vgl. May 2018).