Am 9. September 1945 endete der zweite Weltkrieg. Nicht mit der Kapitulation Deutschlands, die den Krieg in Europa schon am 8. Mai des selben Jahres beendete. Auch nicht mit der berühmten Ansprache des japanischen Kaisers per Radio, der, nach den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki und ohne das Wort Kapitulation je in den Mund zu nehmen, sich den Alliierten ergab. Nein, erst mit der Kapitulation der japanischen Truppen in China war der Krieg wirklich beendet. Es ist bezeichnend, wie wenigen Menschen außerhalb der betroffenen Länder dieser Kriegsschauplatz überhaupt bewusst ist. Dabei hatte der Weltkrieg hier begonnen, nicht mit Hitlers Überfall auf Polen, sondern mit dem zweiten japanisch-chinesischen Krieg.
Die Kapitulation der japanischen Truppen beendete ein halbes Jahrhundert aggressiver Expansions- und Großmachtpolitik des japanischen Kaiserreichs. Sie besiegelte ein Kapitel der Geschichte, in dem alle Schrecken imperialistischer Eroberung vorkamen: Raub von Land und Ressourcen, Vertreibung und ethnische Säuberung, Kolonisierung und kulturelle Zwangsassimilation, Versklavung und Vergewaltigungen, biologische und chemische Kriegsführung, sogar medizinische Experimente und Vivisektion.
In seiner öffentlichen Selbstdarstellung hatte Japan sich dabei immer als Befreier gesehen: vom Joch des westlichen Imperialismus, der sich große Teile Asiens unterworfen hatte. Dabei war schon früh abzusehen, dass die Feindschaft Japans zu den europäischen Kolonialmächten die Feindschaft des zu spät Gekommenen war. Dass, wer den Imperialismus der anderen geißelt, im Kleingedruckten durchaus seine eigenen imperialen Ambitionen verstecken mag. Schließlich war Japans Außenpolitik seit dem Ende des 19. Jahrhunderts im zunehmenden Maße von konkurrierenden Rackets dominiert: von Formationen der Armee und der Marine, die immer öfter eigenständig Politik betrieben. Und von den monopolistischen, eng mit dem Militär verflochtenen Firmenverbünden, den Zaibatsus, die vor allem die Sorge um Japans Mangel an Bodenschätzen zur weiteren Verwertung umtrieb.1
So kam es, dass das 20. Jahrhundert mit einem Krieg in Fernost begann, bei dem erstmals eine nicht-westliche Macht (Japan) eine solche westliche (Russland) 1904/1905 besiegte – und statt, dass die imperiale Vorherrschaft über Korea und die chinesische Mandschurei gebrochen wurde, tauschten bloß die Besatzer. Korea wurde japanisch und die Mandschurei für ein paar Jahre formal wieder chinesisch, während der Japan eine Eisenbahnlinie errichtete, um die Ressourcen dieses Gebietes von der Größe Westeuropas nutzbar zu machen. Schließlich fingierte die Schutztruppe dieser Eisenbahnlinie, die japanische Kwantung-Armee, einen Angriff, der ihr als Vorwand zur offenen Besatzung des Landes diente. Innerjapanische Gegner dieses Angriffs wurden ermordet und das Klima der Angst und des nationalen Größenwahns rechtfertige diesen „Mukden-Zwischenfall“ von 1931 nachträglich, so dass im berühmten Yasukuni-Schrein in Tokio noch heute China als Aggressor angegeben wird.2
Über all diese, noch heute in Japan euphemistisch als „Zwischenfälle“ verharmlosten Akte der Kriegstreiberei hinweg entwickelte sich in Japan ein breiter öffentlicher Diskurs von nationalistischem und rassischem Wahn. Die Rede von der überlegenen japanischen „Yamato-Rasse“ und ihrer historischen Aufgabe, ganz Ostasien zu beherrschen, schaffte es schließlich sogar in offizielle Regierungsdokumente über die „Großostasiatische Wohlstandssphäre“, der politischen Ordnung Japans und von Japan unterworfener Gebiete.3
Imperialismus Fernost und Critical Whiteness
Die gesamte Geschichte des japanischen Imperialismus ist für gegenwärtige Debatten relevant, weil an ihm etwas deutlich wird, was Vertreter einer vulgären „Critical Whiteness“ und intersektionaler Theoriegebilde nicht wahrhaben wollen: dass imperialistische Politik und rassistische Ideologie keine Eigenarten des Westens sind, dass die Ideologie rassischer oder kultureller Überlegenheit keine ontologischen Setzungen des weißen Mannes sind, sondern dass vielmehr sozio-ökonomische Bedingungen für die Entwicklung rassistischen Denkens ausschlaggebend sind. Mit ihr versichert sich die kapitalistische Gesellschaft ihres eigenen Platzes in der Welt und in der Geschichte: und dieser Platz soll einer von Größe und Macht sein.
Es ist den Theoremen des Whiteness-Konzeptes nicht zwingend innerlich, ausschließlich eine Hierarchie von Europäern zu Nicht-Europäern zu beschreiben. Wohl aber versperrt die positivistische Beschränkung auf die Erscheinungsebene und das intersektionale Dogma, dass der Rassismus nur etwas mit sich selbst zu tun habe, unabhängig vom größeren gesellschaftlichen Kontext, den Blick auf das Wesen der Phänomene. Sie werden zu einem Ding an sich, einer Setzung von rassischen Privilegien, die sich nur aus sich selbst heraus erklärt: als Privileg durch Weißsein. Seine deskriptiven Werkzeuge könnten zwar auch auf die imperiale Ideologie des japanischen Kaiserreichs angewandt werden. Sie würden aber ihrer Begrifflichkeit wegen seltsam deplatziert sein, da gerade die suggestive Wirkung der von ihr verwandten Begriffe den Blick ihrer Adepten auf europäischen Rassismus und europäische Kolonialherrschaft einengen.
Wer die Aversion gegen „cultural appropriation“ mit dem Machtgefälle der kolonialen Weltordnung rechtfertigt, der verrät sich, wo er noch den Kimono4 als originäres Produkt einer kolonial unterdrückten Kultur vor Aneignung durch den Westen schützen will. Er macht die Nation der Täter zu einer der Opfer, nur weil ihre Haut nicht weiß genug war.
von Ole Nickel
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1 Eine umfassende Beschreibung der Entwicklung Japans vom Feudalstaat zur industrialisierten Großmacht in Ostasien, sowie der Rolle von Militär und Zaibatsus in der Politik des japanischen Kaisserreiches findet sich bei Marius B. Jansen: The Making of Modern Japan (2000).
2 Zur politischen Brisanz der japanischen Gedenkpolitik und speziell der Brisanz des Yasukuni-Schreines: http://www.welt.de/geschichte/zweiter-weltkrieg/article119043761/Japans-Kriegsgedenken-provoziert-China.html
3 John W. Dower: War Without Mercy: Race and Power in the Pacific War (1986), S. 262–290
4 Der sich zum Beispiel bei Hengameh Yaghoobifarah findet, in einer Aufzählung von angeblich durch Weiße auf dem Fusion-Festival appropriierten Kulturpraktiken: https://missy-magazine.de/2016/07/05/fusion-revisited-karneval-der-kulturlosen/