Debattenbeitrag von Stefan Taubner
Als man sich im Frühling 2021 in Deutschland um die Impfung gegen Covid-19 rangelte, manches Home Office plötzlich systemrelevant wurde und besonders Linke eine stärkere Priorisierung anmahnten, ahnten viele noch nicht, dass nur wenige Monate später schon der gesellschaftliche und politische Druck in die entgegengesetzte Richtung wuchs, um Ungeimpfte von der Impfung zu überzeugen. Mit Blick auf europäische Nachbarn wie Frankreich oder Italien, in denen bereits früh die Möglichkeit einer gesetzlichen Pflicht zur Corona-Impfung diskutiert wurde, versicherte die damalige Bundesregierung aus Union und SPD, dass ein solches Vorgehen in Deutschland nicht zur Debatte stünde. Auch von den anderen Parteien traute sich im Vorfeld der Wahl zum Bundestag keine, das Thema aufzugreifen. Gleichzeitig stieg der Druck auf Ungeimpfte durch verschiedene Maßnahmen durchaus, beispielsweise durch Zugangsbeschränkungen im Freizeitbereich, Testpflicht oder Lohnausfall im Quarantänefall. Die hohen Infektions- und Todeszahlen, insbesondere in Sachsen, konnten mit solchen Entscheidungen freilich nicht verhindert werden. Die Krankenhäuser im Osten und Südosten Deutschlands waren wieder am Limit und vor schweren oder tödlichen Krankheitsverläufen konnten Ungeimpfte bestenfalls nur durch präventive Kontaktbeschränkungen geschützt werden, insofern diese überhaupt durchsetzbar waren. Drei Monate, nachdem Olaf Scholz eine Impflicht für Deutschland ausgeschlossen hatte, meinte der neue Bundeskanzler, dass es „wichtig [wäre], dass wir eine allgemeine Impfpflicht etablieren.“ Einer Umfrage zufolge unterstützten im Dezember 2021 63 % der Deutschen ein solches Vorgehen, 30 % lehnten eine Impfpflicht ab. Als Ende 2020 die ersten Impfstoffe gegen Covid-19 in Europa zugelassen wurden, war laut Umfragen noch eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung gegen eine verpflichtende Impfung. Nachdem trotz verfügbarer Impfstoffe auch 2021 kein Ende der Pandemie absehbar war, verschärfte sich der Ton und auch der gesellschaftliche Umgang miteinander. Während vor allem aus dem Querdenkerspektrum heraus auch regelmäßig Übergriffe gegen MaskenträgerInnen verübt wurden, identifizierten sich gleichzeitig immer mehr Menschen mit einer verlängerten Exekutive und gingen gegen MaskengegnerInnen vor. Der Kampf gegen die Corona-Pandemie oder eben auch gegen die imaginierte Corona-Verschwörung wird zudem auch individuell geführt. Dass es dabei vor allem um eine Überwindung der eigenen Ohnmachtserfahrung geht, zeigt die zunehmende Härte der Auseinandersetzungen und die abnehmende Bedeutung (zweck-)rationaler Argumente. Die Gefahr, die dabei von Maßnahmen-GegnerInnen, die sich zum Teil in einem Freiheitskampf auf Leben und Tod wähnen, ausgeht, bleibt unbestritten und wird durch zahlreiche Gewalttaten bis hin zum Mord belegt. Wenn aber nach allen politischen Maßnahmen der letzten Monate und unter dem Eindruck der Omikron-Variante, deren Verbreitung durch die derzeitigen Impfstoffe kaum verhindert werden kann, Gesundheitsminister Lauterbach fordert, „jetzt müssen die Ungeimpften ihren Beitrag leisten“, wird blinder Aktionismus zur Grundlage des staatlichen Handelns. Entscheidend ist nicht mehr der konkrete Nutzen einer Maßnahme (man denke nur an die Abschaffung der kostenlosen Schnelltests für Ungeimpfte im Oktober) oder deren Verhältnismäßigkeit, sondern das Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen. Bereits im November sprach Frank Ulrich Montgomery, der Vorsitzende des Weltärztebundes, von der „Tyrannei der Ungeimpften“. Mit dem Andauern der Pandemie spielt die Schuldfrage eine immer größere Rolle in den gesellschaftlichen Debatten. Zur Überwindung der Ohnmacht bietet sich die Identifikation mit dem Staat und seinen möglichst einschneidenden Maßnahmen an. Die Positionierung gegen das staatliche Pandemiemanagement beruft sich dagegen auf die ‚Freiheit‘ des blinden Konkurrenzkampfs und fragt zynisch-naiv, ob wir nicht das Sterben verlernt hätten.
Zwischentöne dagegen werden schwieriger. Wer eine Impfpflicht ablehnt, findet derzeit wenig politischen Anschluss abseits der sich radikalisierenden Querdenker-Bewegung. Diese wiederum profitiert von der Zuspitzung und kann sich noch stärker (zusammen mit der AfD, mit der sie teilweise verbunden ist) als einzige Opposition im politischen Umgang mit der Corona-Pandemie präsentieren. Diese Entwicklung stellt auch das vorgebliche Ziel einer allgemeinen Impfpflicht infrage. Sie soll dazu beitragen, die Impfquote in der Bevölkerung zu steigern und so den Druck auf das Gesundheitssystem reduzieren – letztlich vor allem eine volkswirtschaftliche Kosten-Nutzen-Abwägung. Mit Blick auf die vergangenen Monate wurden Ungeimpfte allerdings bereits stark unter Druck gesetzt und waren mit finanziellen Nachteilen oder dem Ausschluss vom gesellschaftlichen Leben konfrontiert, zumindest wenn die Vorgaben auch kontrolliert und umgesetzt wurden. Die Impfpflicht ändert an diesem Prinzip nichts. Auch hier soll mit Geldbußen der nötige Druck aufgebaut werden. Der entscheidende Unterschied läge in der Umsetzung der Kontrollen: Theoretisch könnte überall in der Öffentlichkeit der Impfstatus kontrolliert werden, zumindest solange es kein allgemeines Impfregister gibt, auf das die Gesundheitsämter zurückgreifen können. Mit Einführung eines solchen Registers gäbe es dagegen keine Möglichkeit mehr, sich der staatlichen Kontrolle und Sanktionierung zu entziehen. Der Impfstatus wäre dann Teil der grundlegenden staatsbürgerlichen Pflichten.
Die Aufgabe individueller Freiheiten zugunsten eines Souveräns gehört zu den Grundlagen des Staatswesens. Während in Diktaturen oder absoluten Monarchien das Verhältnis von Pflichten und Rechten von wenigen oder sogar einer Einzelperson entschieden wird (sofern sie auch die Mittel hat, die jeweilige Ordnung durchzusetzen), finden in Demokratien in der Regel komplizierte Aushandlungsprozesse statt, auch wenn diesen inhaltlich durch die Kapitalverwertung Grenzen gesetzt sind. Diese Aushandlungsprozesse traten während der Corona-Pandemie zunehmend gegenüber Sachzwängen und ‚alternativlosen‘ Maßnahmen zurück. Eine solche Entwicklung ist durchaus nachvollziehbar. In Katastrophensituationen müssen oft Entscheidungen getroffen werden, die erst nachträglich diskutiert und bewertet werden können. Eine Pandemie findet zudem gewissermaßen als Katastrophe in Zeitlupe statt; das wäre selbst im Fall fehlender Maßnahmen allein durch die jahrelangen Infektionswellen der Fall. Als dominierende Stichwortgeber dieser Sachzwänge und des Umgangs mit diesen wurde in Politik und Öffentlichkeit jetzt häufig die (Natur-)Wissenschaft präsentiert, obgleich Virologie, Epidemiologie und Co. nichts anderes taten als früher, wenn auch auf einmal sehr präsent. In der Hinwendung zur positivistischen Wissenschaft kamen zwei gesellschaftliche Bedürfnisse zum Ausdruck: Zum einen schien diese eine Situation, die vom Einzelnen weder erfasst noch bewältigt werden kann, beherrschbar zu machen. Binnen weniger Monate wurden Millionen Deutsche (in anderen Ländern dürfte es ähnlich gewesen sein) zu Hobby-VirologInnen und überboten sich gegenseitig mit dem Wissen über die neuesten Infektionszahlen, Mutationen und Impfquoten. Zum anderen ließ sich auch die Verantwortung für den richtigen Umgang mit der Pandemie auf spezialisierte WissenschaftlerInnen übertragen, was besonders im politischen Bereich noch einmal verstärkt wurde – die Grenzen zwischen Wissenschaft und Politik schienen zu verschwimmen. Dass Wissenschaft keine Zwecke setzen kann, spielt in diesem Wunsch nach Naturbeherrschung keine Rolle mehr, so wie auch unter den weitgehend verloren gegangenen utopischen Potenzialen heute meistens nur noch Sozialtechnik verstanden wird. Werden die damit verbundenen Hoffnungen auf Beherrschung oder Überwindung der Pandemie oder gar die Durchsetzung einer solidarischen Gesellschaft, für die tatsächlich viele Linke 2020 die Pandemie als Chance sahen, enttäuscht, nehmen ideologische Verengung und Erfahrungsverweigerung weiter zu – das Coronavirus wird dann zum Platzhalter für unterschiedliche politische Haltungen und Strömungen, die im konkreten Bezug zum Virus die Chance zur Überwindung ihrer allgemeinen gesellschaftlichen Ohnmacht zu erkennen glauben. Wenn aber die Erwartungen in die Wissenschaft von dieser nicht erfüllt werden bzw. gar nicht erfüllt werden können, weil sich gesellschaftliche Entwicklungen und menschliches Handeln (glücklicherweise) immer noch nicht berechnen lassen, nimmt die Suche nach Schuldigen, die die Berechnungen versaut haben, in öffentlichen Debatten immer mehr Raum ein. Da spielt es keine Rolle mehr, dass das lange Zeit ausgegebene Ziel einer Immunisierung von zwei Dritteln der Bevölkerung längst überschritten wurde und der aktuelle Impfstoff die Übertragungsrate der Omikron-Variante nur wenig reduziert. Wer dagegen nicht von den staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie oder von der Impfpflicht überzeugt ist, neigt unter diesen Bedingungen leicht dazu, das Pandemie-Management als Komplott von Staat und Wissenschaft wahrzunehmen. Da aus beiden Perspektiven die erfahrene individuelle Machtlosigkeit nur durch das Finden von Schuldigen überwunden werden kann, nimmt die Spaltung weiter zu und damit auch die Gefahr einer Stärkung der extremen Rechten, die, von Teilen der FDP abgesehen, zur wichtigsten öffentlichen Stimme gegen eine Impfpflicht geworden ist.
Dass der Staat nie die ‚richtige‘ Entscheidung treffen konnte, ist allerdings auch klar. Als institutioneller Garant des kapitalistischen Wettbewerbs und Vertreter des Staatsvolks nach außen muss er das individuelle Profitstreben auch volkswirtschaftlich international durchsetzen. Damit ist das Interesse nach einer möglichst reibungslosen Kapitalverwertung ohne Einschränkungen impliziert. Unter den Bedingungen einer Pandemie konnte der Normalbetrieb jedoch nicht aufrechterhalten werden, weil ansonsten aufgrund einer unkontrollierten Virusverbreitung eine massive Krankheitslast in der Bevölkerung und ein Zusammenbruch der kritischen Infrastruktur drohte. Hinzu kommt, dass alle entmenschlichenden Potenziale in unserer Gesellschaft trotz des alltäglichen Leids nicht stark genug sind, um die Mehrheit der Bevölkerung davon zu überzeugen, dass hunderttausende Tote hingenommen werden müssten, nicht mal zum Wohle des Wirtschaftsstandorts. Ohne die vergangenen staatlichen Maßnahmen hätte also auch ein massiver Verlust der staatlichen Autorität gedroht. Gleichzeitig wird hier deutlich, warum beispielsweise so viele Linke in der Pandemie die Chance auf eine Entwicklung zu einer solidarischeren Gesellschaft sahen und sich unbewusst immer stärker mit der staatlichen Gewalt identifizierten. Wer dagegen – oft aus erfahrbaren wirtschaftlichen Gründen – wieder eine Rückkehr zur Normalität forderte, musste sich eines ideologischen Tricks bedienen und die Gefahr durch das Virus verneinen. Als immerhin psychische Erleichterung bot sich für viele auch die Suche nach Schuldigen in Form einer weltweiten Verschwörung an.
Zwei Jahre Pandemie und ein auf reinen Zahlen beruhendes Verständnis von Gesellschaft und dem Zusammenleben der Menschen haben so im Bündnis mit der bei allen staatlichen Entscheidungen mitschwingenden Volkswirtschaftslehre eine Art Utilitarismus befeuert, die in der verbreiteten Forderung nach einer allgemeinen Impfpflicht gipfelt. Individuelle Rechte spielen gegenüber einer (berechneten) Summe an Vorteilen aller keine Rolle mehr. Eine solche Tendenz ist dem Staat an sich zwar schon aus Prinzip eingeschrieben, doch tritt sie meistens deutlich verschleierter in Form allgemeiner bewusstloser Identifikation auf. Mit den soliden Ergebnissen der Naturwissenschaft im Rücken fordert Christian Drosten mittlerweile auch KinderärztInnen auf, endlich mehr Druck beim Impfen von Kindern zu machen – allein aus epidemiologischen Gründen („ich kann nur an die Pädiater auch die Bitte richten, sich sehr sorgfältig mit den epidemiologischen Voraussetzungen zu befassen“). Wie stark Drosten dabei auch mit dem volkswirtschaftlichen Blick denkt, lässt sich nur mutmaßen. Für den Staat und Wirtschaftsstandort Deutschland ist dagegen die rationale Kosten-Nutzen-Abwägung klar: Mit einer Impfpflicht spart man Kosten im Gesundheitswesen, reduziert Kontrollmaßnahmen und benötigt kaum noch pandemiebedingte Einschränkungen, sodass hier Individualrechte zugunsten der Gemeinschaft zumindest vorübergehend zurückgestellt werden können. Karl Lauterbach denkt in diesem Zusammenhang sogar besonders vorausschauend, wenn er seine Forderung nach einer allgemeinen Impfpflicht mit möglichen späteren Mutationen begründet, über deren Auftreten und Form nur spekuliert werden kann und bei denen man nicht wissen kann, wie hoch die Wirksamkeit der bisherigen Impfstoffe sein wird. Am Ende entscheiden Gerichte anhand der Maßgabe der Verhältnismäßigkeit, ob Legislative und Exekutive tatsächlich von einer solch einschneidenden Maßnahme Gebrauch machen dürfen. Vielleicht berücksichtigen sie dabei auch die möglichen Folgen für den sog. ‚Zusammenhalt‘ in der Gesellschaft. Unter den Maßgaben einer emanzipatorischen Kritik ist letztlich jede staatliche Entscheidung eine falsche, denn die blinde Identifikation mit dem Staat als „ideellem Gesamtkapitalist“ (Marx) verhindert jegliches utopische Potenzial hin zu einer bewussten und damit auch theoretisch möglichen solidarischen Gesellschaft. Aber auch das Aufbrechen dieser Identifikation durch ein Scheitern der staatlichen Krisenbewältigungsstrategien würde allein schon durch die damit verbundenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten für viele Menschen konkret erfahrbare Probleme mit sich bringen. Weil unter den gegenwärtigen Bedingungen Krisenerfahrungen viel zu oft eher reaktionäre denn emanzipatorische Potenziale freisetzen, bleibt einer Kritik, der es um konkretes menschliches Leid geht, oft nur wieder das verzweifelte Festhalten an einem Status quo, der sich aus der Distanz betrachtet selbst als permanente Katastrophe offenbart. Umso wichtiger ist es für mich, widerlegt zu werden: Meinetwegen auch durch die Naturwissenschaft, staatliche Maßnahmen, echte und vermeintliche Zufälle, aber am besten durch bewusste zwischenmenschliche Momente, durch kleine Unterbrechungen im Räderwerk der blind betriebenen Geschichte.