Eine linke Position zur Coronapandemie jenseits Virusverharmlosung und wohlfeiler Maßnahmen-Schelte: Grünen-Mitgründer Thomas Ebermann denunziert die Normalität der Gesellschaft unter Bedingungen der Pandemie.
Das dritte Jahr der Pandemie zählt einerseits bis jetzt rund 138.000 Tote – weltweit über 6,2 Millionen exklusive Dunkelziffer der Elendsregionen –, unzählige Schwererkrankte und sogenannte Normalverläufe. Andererseits: Gelassenheit, Zuversicht und Entwarnungen – und stets das Mantra, man müsse nun mal mit dem Virus leben. Die Rückkehr zur Normalität – das Glücksversprechen pandemischer Zeiten – wurde, mal mit Mut, mal mit Sehnsucht garniert, geradezu allgegenwärtig beschworen. In der nunmehr fünften Coronawelle wurden zwar bis vor Kurzem beinahe täglich neue Infektionsrekorde vermeldet, Stimmen aber, die schärfere Maßnahmen forderten, sucht man inzwischen vergebens. So hat ein namhafter Virologe schon mal realitätsgerecht zu Protokoll gegeben, dass man in Zukunft die Diskussion wird führen müssen, »wie viele Coronatote pro Winter wir uns erlauben wollen«. Aber normal.
Für den Dramaturgen und Publizisten Thomas Ebermann dagegen reimt sich Normalität keineswegs auf Glück, sondern auf entfremdete Arbeit und falsche Bedürfnisse. Er hat ein im Wortsinne radikales Buch zum Thema vorgelegt, das nur vordergründig eine Polemik gegen jegliche Verharmlosung der potenziell tödlichen Krankheit darstellt. Im Kern verhandelt die Schrift, wie das Ausnahmegeschehen von der Normalität der verwalteten Welt strukturiert wird, und wie wiederum die Ausnahmesituation jene Normalität verklären lässt. Vermessen wird nicht der Widerspruch von Anspruch und Umsetzung der Pandemiepolitik. Deren Anspruch und Ideal selbst stehen hier zur Kritik.
Pandemie als gesellschaftlich produzierte Naturkatastrophe
Die Kritik? Das ist die an Marx geschulte, materialistisch ihrem Sinn nach, die danach trachtet, den Verhältnissen ihre eigene Melodie vorzuspielen. Ausgangspunkt von Ebermanns Analyse ist die Art und Weise gesellschaftlichen Produzierens. Mit scharfem Blick wird die sogenannte Normalität mit all ihren Zumutungen thematisiert. Und damit auch mögliche Ursachen der Pandemie. Diese, ist sich Ebermann mit dem politischen Virologen Rob Wallace einig, sind nicht abzutrennen von der fortschreitenden Naturbeherrschung und intensiven Landwirtschaft. Deutlichen Widerspruch erfährt der Talkshow-Dauerbrenner, die Pandemie sei eine Naturkatastrophe.
Was, wenn die Pandemie nicht, wie landläufig behauptet, quasi schicksalhaft über die Menschheit gekommen ist, sondern ihren Ursprung letztlich in Produktion und Konsum hat? Wenn man sie also, analog zum Klimawandel, als etwas Menschengemachtes – Ebermann übersetzt: »von der kapitalistischen Produktionsweise Erzeugtes« – zu begreifen hat? Impliziert Normalität selbst die Katastrophe, wird man die gerufenen Geister freilich nicht so einfach wieder los. Und noch der beste Katastrophenplan, bemerkt Ebermann, hat dann etwas vom Kampf gegen Windmühlen.
Ebermann weiß um und reflektiert die relative Wirkungslosigkeit dieser Position. Das ist sympathisch, bedenkt man, wie kraftmeierisch manch Publikation daherkommt, die ihre eigene Ohnmacht und Schwäche nicht selten mit ordentlich Tamtam zu kompensieren sucht. Wahrheitsgehalt ist für Ebermann das entscheidende Kriterium, nicht die Reichweite. Wer die Flaschenpost entkorkt, erfährt allerhand Wissenswertes in Sachen Gesellschaftstheorie. Reflexionen über die instrumentelle Vernunft des Spätkapitalismus etwa oder Überlegungen zur Ideologie und Verharmlosung des Todes, zur Kritik der Bedürfnisse, Gedanken über die historische Transformation von äußerem Zwang in Selbstzwang sowie Lehrreiches über das »Pathogene im Normalen«. Dabei sind Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse gewiss nicht die schlechtesten Zitatgeber.
Akzeptierte Opfer der Pandemie
Seine »systemirrelevanten Betrachtungen« lesen sich wie eine theoretisch fundierte Kritik im Handgemenge der Pandemie und ihrer Verarbeitungsdiskurse. Skizziert wird ein Vorgang der »verordneten Schizophrenie«. Der private Bereich wurde eingeschränkt, während man die Welt der Lohnarbeit aufrechterhielt. Im Privaten sollte man vorsichtig sein und die Kontakte zählen und – wohl oder übel – risikobereit auf dem Weg zur Arbeit und im Büro, der Werkshalle oder Fabrik. Während Restriktionen das öffentliche Leben einschränkten – damit das zuvor unter Normalbetrieb kaputtgesparte Gesundheitssystem nicht kollabiert –, blieb die Wirtschaft beinahe unangetastet.
So starben Menschen, die nicht hätten sterben müssen. Ebermann spricht in diesem Zusammenhang von einer »kontrollierten Durchseuchung«, von einer Gleichzeitigkeit von »Durchseuchung und Immunisierung durch Impfung«. Dieser »unauflösliche Zusammenhang von Lebensrettung und seiner Opferung« nehme Opfer billigend in Kauf. Opferbereitschaft werde eingefordert und das »Sterbenlassen« als Preis der Freiheit und des Wohlstands legitimiert. Für ihn zeichnet sich hier eine sozialdarwinistische Tendenz ab, die sich in Pandemiezeiten noch verstärkt – eine Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern der Pandemie, die er als Fortführung einer allgemeinen Gleichgültigkeit deutet.
Der Staat als Pandemiebekämpfer
Hat der Staat also angesichts der vielen Toten versagt? Ist er womöglich eingeknickt vor »Querdenkern« oder Lockerungsdebatte? »Diskurs und faktische Lockerungen waren keineswegs nur Reflex auf Hygienedemos und ihr Potenzial«, lautet Ebermanns These, »sondern sie spiegeln kapitalistische Notwendigkeiten und sind Teil einer neuen Balance zwischen den Anforderungen der Wirtschaft und den zu akzeptierenden Opfern.«
Ebermann erinnert daran, dass der Staat in der Pandemie vor allem eines tut – er funktioniert seinen Kernaufgaben entsprechend. Weder war ein Mangel an Arbeitskraft zu beklagen – es konnte also durchgehend produziert werden – noch mussten die für die Weltmarktkonkurrenz relevanten Bereiche stillgelegt werden. Die Akkumulation, auf deren Gelingen der Staat angewiesen ist, wurde in der Balance zwischen Lockerung und Lockdown nicht beschädigt.
Das ist das Einmaleins materialistischer Staatskritik auf die Pandemie angewandt. Der moderne Staat ist demnach weder bloßes Herrschaftsinstrument noch neutrale Instanz. Er fungiere vielmehr als eine Art »ideeller Gesamtkapitalist«, der den Rahmen setze, Interessen ausgleiche und das Funktionieren des Ganzen zu gewährleisten habe. Zu betonen, dass der Staat in der Pandemie bestens funktioniere, seinen Aufgaben also gerecht werde, wiegt freilich ungleich schwerer als das Vorrechnen seiner organisatorischen Fehler und Versäumnisse. Der Zusammenbruch des Gesundheitssystems wird vermieden und das Sterben in geordneten Bahnen akzeptiert. Denn: »Der Staat organisiert den Tod und schützt das Leben.«
Recht auf unbeschädigtes Leben
Mit der Parole von »der Feindschaft gegenüber dem Tod« wird deutlich, wie sehr Ebermanns Schrift als ein humanistisch gesinntes Plädoyer für das Recht auf Leben – das uneingeschränkt gute Leben – zu sehen ist. »Einvernehmen mit dem Tod«, zitiert er Marcuse, »ist Einvernehmen mit dem Herren über den Tod: der Polis, dem Staat, der Natur oder dem Gott.« So wird aus der banalen Tatsache, dass jede und jeder einmal sterben muss, das Einverständnis mit den Sachzwängen der verwalteten Normalität.
Ein Anhänger der mittlerweile verstummten »Zero Covid«-Kampagne, die z.B. Schließungen von Betrieben forderte, ist er aber auch nicht. Ihr attestiert er vielmehr, sich in gut gemeinten, konstruktiven Vorschlägen zu verheddern. Von Ebermann ist dann auch kein Verbesserungsvorschlag und kein ausgetüfteltes Programm zu erwarten. Sein Programm ist die Negation.
Wo Normalität mit Freiheit verwechselt wird und das Sterben zum Kollateralschaden gerät, hat Gesellschaftskritik einen schweren Stand. Wahre Freiheit aber, in der Gesundheit nicht länger stillschweigend mit Funktionstüchtigkeit gleichgesetzt wäre – das blitzt in Ebermanns Buch negativ immer wieder auf –, wäre erst jenseits bekannter Normalität denkbar.
Thomas Ebermann, »Störung im Betriebsablauf. Systemirrelevante Betrachtungen zur Pandemie«, Konkret Verlag: Hamburg 2021, 134 Seiten, 19,50 Euro
Bastian Bredtmann