„Wir sind Teil von degrowth in Bewegung(en)“ – stolz prangt dieses Bekenntnis auf der Homepage des Postwachstums-Kollegs an der Universität Jena. Dass diese Vermischung von Theorie und Praxis eines der Kernelemente des Postwachstumstopos darstellt, wurde früh erkannt. Auffällig scheint hieran, dass selten so unumwunden, gutgelaunt und freimütig die instrumentelle Eingebundenheit der insbesondere soziologischen akademischen Forschung in politische Prozesse zugegeben wurde.
Einer scheinbar „von unten“ kommenden sozialen Bewegung, deren selbsterklärtes Ziel ist, die vorherrschende Wachstumsspirale zu stoppen, damit die Welt und der Mensch endlich in Einklang miteinander kämen (und die bereits ausführlich, etwa von der IG Robotercommunismus, kritisiert worden ist), werden allerlei helfende Hände aus den verschiedensten Wissenschaften gereicht. Im Atlas der Globalisierung – Weniger wird mehr – Der Postwachstumsatlas (2015) darf die Sparte „Wissenschaft und Fachzeitschriften“ im Appendix nicht fehlen, wie auch ins Auge springen muss, dass der Atlas in einer Kooperation zwischen der Publikation Le Monde Diplomatique und dem Kolleg Postwachstumsgesellschaften (Friedrich-Schiller-Universität Jena) erscheint. Deutschsprachige Hochschulen überschlagen sich mit Studienangeboten, die „Nachhaltigkeit“ im Titel haben oder wenigstens in der Beschreibung, so etwa das Joint Master Programme Sustainable Development an der Uni Leipzig:
„Dieser internationale, interdisziplinäre und forschungsorientierte Studiengang beschäftigt sich mit Fragen der Nachhaltigkeit, Umwelt und Entwicklung und mit den Herausforderungen im Übergang zur nachhaltigen Gesellschaft. Die Studierenden betrachten die Möglichkeiten und Probleme des Wandels aus verschiedenen Blickwinkeln und erwerben somit eine hohe und breite Kompetenz in aktuellen und zukünftigen Fragen der nachhaltigen Entwicklung.“ (https://www.zv.uni-leipzig.de/studium/weiterbildung/master-und-aufbaustudiengaenge/sustainable-development.html)
Wer lesen kann, kommt nicht umhin, sich zu fragen, von welchem „Wandel“ hier die Rede ist, wer auf einmal diese Herausforderungen eines „Übergang[s] zur nachhaltigen Gesellschaft“ verordnet haben mag und was das überhaupt sein soll, diese nachhaltige Gesellschaft. Gerade die Tatsache jedoch, dass diese Studienprogramme genauso wie Ringvorlesungen, etwa an der Universität Wien mit dem Titel: „Postwachstum. Selbstorganisierte Ringvorlesung. Zwischen Utopie und Praxis: Degrowth – Ein Ausweg aus der Sackgasse?“ (ie.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/proj_int_entwicklung/Veranstaltungs_Attachments__Flyer_/RV_Postwachstum.pdf), selbstverständlich für wissenschaftlich relevant gehalten werden, muss uns einmal mehr aufhorchen lassen. Nicht nur für ein paar Esoteriker*innen und für die breite Öffentlichkeit – wenigstens in der BRD – mit weniger Deutungshoheit versehene Institutionen wie die Kirche konnte Postwachstum ein seriöses Thema werden, sondern für die Wissenschaft, und besonders: die Sozialwissenschaft. Vertreter*innen dieser Disziplin wiederum halten das Monopol für die Erklärung und Legitimation des Bestehenden, sie unterbreiten subtile und explizite Verhaltensanweisungen und trostspendende Deutungen der komplexen Realität, der gesellschaftlichen Totalität – und des sozialen Wandels. Auf diesen gilt es die Öffentlichkeit vorzubereiten, unter anderem durch scheinbar rationale Argumente, mithilfe derer nicht weniger als die Verwissenschaftlichung der Bewegung geschehen soll. Kritik ist in diesem Modell mehr als vorgesehen; sie ist erwünscht. Damit wird sie, meist hinter dem Rücken der Akteur*innen, ohne ihr Wissen, ohne ihr Zutun eingehegt und entwaffnet.
Noch ehe Kritiker*innen ihr Anliegen vortragen können, sitzen sie versöhnt am Round Table, bewegen sich auf jene zu, die sie attackieren wollten, und einigen sich mit ihnen am Ende unbedingt auf den unausweichlichen Kompromiss. Dabei fühlen viele trotzdem Befriedigung – denn scheinbar geht „es“ ja voran. Die Soziologie, die Sozialwissenschaft, die Politikwissenschaft und andere Subdisziplinen der Wissenschaften, die den Menschen unmittelbar zum Gegenstand haben (müssten), sind auf besondere Weise von dieser Einbindung der Kritik betroffen. Sie sind diejenigen Institutionen, die die Welt, wie sie den Individuen als notwendig erscheint, für vernünftig erklären sollen. Zugleich sind sie ehemalige Zentren der Kritik. Die deutschsprachige Soziologie, zumal die der BRD, ist historisch an die auf dem leichenübersäten Boden des Holocaust und der Shoah und in hellwacher Bewusstheit entstandenen Tradition der Kritischen Theorie auch dort gebunden, wo sie sie verneint. Dass Soziologie überhaupt einen kritischen und nicht nur einen vermessenden und verwaltenden Anspruch haben konnte, dass sie bereits einmal mit einer sozialen Bewegung (1968 und folgende Jahre) konfrontiert war, welche sich intellektuell aus ihr speiste und welche sie doch, zumindest in Teilen, zerstören wollte – diese Umstände (und viele mehr noch) tragen dazu bei, dass die Vertreter*innen der Soziologie, jedenfalls wenn sie denn noch einen qualitativen, einen theoretischen Beitrag leisten wollen, auf irgendeine Form der Kritik nicht gänzlich verzichten können. Das heißt, auch und gerade die Theoretiker*innen, die begründen sollen, warum und wie Postwachstumsgesellschaften entstehen sollen, haben das Selbstbild kritischer Forscher*innen.
Wir möchten in unserem Beitrag nachzeichnen, mit welchen, mitunter nicht ausgewiesenen, Prämissen Sozialwissenschaftler*innen der Postwachstumsforschung operieren, also den modus operandi ihres Denkens. Hierfür werden wir uns exemplarisch auf das von der DFG geförderte Kolleg Postwachstumsgesellschaften an der Uni Jena konzentrieren. Den Vertreter*innen der Deutschen Forschungsgemeinschaft kommt die Rolle von Multiplikator*innen zu, die im Entscheidungsprozess über Gelder mit der Sphäre der Politik verquickt ist. Gremien setzen sich zumeist zusammen aus anderen Wissenschaftler*innen, dabei ist die DFG ein eingetragener Verein, der aus Landes- und Bundesmitteln finanziert wird. Wir können zum jetzigen Zeitpunkt nicht genau klären, ob und wie sich Ideen und Forderungen der degrowth-Bewegung, die durch ihre Verbandelung mit einzelnen Institutionen der Wissenschaft und Forschung Legitimation erfährt, konkret – eben vermittels staatlich geförderter Forschungsprogramme wie des DFG-Kollegs Postwachstumsgesellschaften in Jena – auf der Ebene der Staatsverwaltung niederschlagen. Allerdings können wir analysieren, welche Vorannahmen über Schlüsselkategorien wie die des Menschen, der Gesellschaft, des Individuums oder der Kritik zentral für Denkfiguren der Jenaer Postwachstumsforschung sind. Neu geprägte oder umgewidmete Begriffe wie Entfremdung, Resonanz, gelingendes Leben treten in den Vordergrund, ohne die Vorannahmen zu ersetzen, sondern vielmehr sie mittragend und ausdrückend. In unserem ersten Schritt werden wir daher zunächst auf das Kritikverständnis einzelner meinungsstarker und medial präsenter, zumindest für einige Sektoren der Öffentlichkeit einflussreicher Protagonisten der Soziologie an der Uni Jena eingehen, namentlich Klaus Dörre, Stephan Lessenich und Harmut Rosa. Einige Theorien der Soziologie Rosas nehmen wir zentral in den Fokus, wobei wir Rosas Marxlektüre rekonstruieren, die wesentlich für seine Wachstumskritik ist. Daraufhin untersuchen wir das Vorgängerkolleg (SFB 580) und seine Ergebnisse, um die in das neue Kolleg transferierten Grundlagen (Challenge-and-Response-Modell) auszuweisen. Ausführungen zu einigen Denkfiguren des Kollegs folgen, bevor wir wieder bei dem Kritikverständnis angelangen.
Kritischer als die Kritiker. Vom Selbstanspruch einiger Postwachstumsforscher
„Autoren wie Moishe Postone oder Michael Heinrich heben daher folgerichtig hervor, dass das Kapital bei Marx als ‚eine Kategorie der Bewegung, der Expansion‘ und ‚Steigerung‘ erscheint, und aus dem Umstand, dass die Steigerung gleichsam immer wieder leerläuft und nur der Aufrechterhaltung des Status quo des Akkumulationsprozesses dient, ergibt sich als gesellschaftlicher Zustand schließlich das, was ich in Beschleunigung als ‚rasenden Stillstand‘ zu beschreiben versucht habe und was schon Adorno als die Verkehrung des Dynamischen in Statik beobachtete.“ (Rosa 2013: 401)
Was heißt kritische Theorie heute? Über diese Frage stritten sich Hartmut Rosa und Rainer Forst am 9.5.2016 in einer Podiumsdiskussion, moderiert von Elisabeth von Thadden und organisiert vom Kolleg Postwachstumsgesellschaften in Jena. Diese relativ gut besuchte Veranstaltung bringt auf den Punkt, in welcher Tradition sich das soziologische Institut Jena gern bewegen möchte, wie auch die im Eingangszitat von Rosa kreierte Konstellation – Postone, Heinrich, Marx, Rosa, Adorno – die gewünschten Kontinuitäten herstellt.
Rosa sieht sich selbst als kritischer Theoretiker in der Tradition der Frankfurter Schule, dennoch will er sich nicht an diese anbiedern, sondern einen eigenständigen Standpunkt kritischer Gesellschaftsforschung etablieren:
„Was wir aus der Traditionslinie der Kritischen Theorie aber vor allem lernen können, ist die Tendenz der Moderne, dieses spezifische Weltverhältnis der Reichweitenvergrößerung zu naturalisieren, es zur zweiten Natur werden zu lassen, so dass es als die normale, primäre, selbstverständliche Form der Weltbeziehung erscheint. Dass es diese gerade nicht ist, (…) lässt sich aber nur begreifen, oder besser: erahnen, wenn der Sinn für die Möglichkeit einer anderen Weltbeziehung erhalten bleibt. Die diskutierten Denker haben ausnahmslos solche Gegenkonzeptionen angedeutet, wenn sie, oftmals eher in raunender als in argumentierender Form, auf die Möglichkeit anderer Beziehungsformen insistierten. Wie diese aber aussehen könnten, bleibt letztlich völlig unklar (…). Bei Honneth und Habermas nehmen sie die Form verständigungsorientierter und anerkennungsstiftender Verhältnisse an, aber Anerkennung und Verständigung, so habe ich dargelegt, reichen nicht aus, um gelingende Weltbeziehungen herzustellen. Die dritte Einsicht lautet daher, dass das Hauptdesideratum Kritischer Theorie heute nicht darin besteht, Verdinglichung oder Entfremdung ein weiteres Mal nachzuweisen. Es liegt vielmehr in der Aufgabe, das Konzept einer nichtverdinglichten Existenzweise zu entwickeln (…). Dies zu leisten ist der Anspruch und das Ziel der in diesem Buch entwickelten Resonanztheorie.“ (Rosa 2016: 597f.)
Die Kritische Theorie – und aus ihrem Umfeld kommen bei Rosa neben Lukács, Adorno, Horkheimer und Marcuse ebenso Karen Horney und Erich Fromm (vgl. ebd.: 299), Jürgen Habermas und Axel Honneth – gilt es zu hinterfragen. Nicht nur, weil sie Desiderate aufweist, sondern auch, weil sie für die „Glücksskepsis der Soziologie“ steht (vgl. ebd.: 52). Um letzterer beizukommen, wurde statt eines Instituts für Sozialforschung in Jena das Postwachstums-Kolleg aufgebaut. Den Antrag verfassten Klaus Dörre, Stephan Lessenich und Hartmut Rosa.
Vom Sonderforschungsbereich zum Kolleg: Auf der Suche nach der neuen Aggregationsregel
Die Geschichte des Kollegs Postwachstumsgesellschaften in Jena beginnt mit einem von der DFG finanzierten Sonderforschungsbereich (SFB) zur Transformation der DDR, das von 2001 bis 2012 gefördert wurde: „Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch“ (SFB 580). Dass der SFB als direkter Vorgänger für das neue Kolleg begriffen wird, zeigt sowohl die Tagung Von Krise zu Krise? Transformation ohne Ende (14. bis 15. Juni 2012, Jena), mit der der Übergang vom SFB zum Kolleg zelebriert wurde (vgl. kolleg-postwachstum.de/sozwgmedia/dokumente/Tagung+Krise+Flyer.pdf), als auch eine Passage im Antragsschreiben:
„Im Anschluss an die Forschungen im SFB 580 sowie an diverse Vorarbeiten der Antragsteller [i.e. Klaus Dörre, Stephan Lessenich, Harmut Rosa; Anm. die Autorinnen] zielt das Kolleg darauf, soziologische Expertise in eine gesellschaftliche Großkontroverse einzubringen, welche die Öffentlichkeiten nicht nur europäischer Gesellschaften auf Jahre hinaus bewegen wird.“ (DFG-Antrag, o.J.: 1)
Das groß aufgezogene Forschungsprojekt des SFB 580 verband verschiedene Fachbereiche der Universitäten Jena und Halle-Wittenberg unter der Fragestellung: „Unter welchen Bedingungen und in welchen gesellschaftlichen Bereichen ist eine weitere Angleichung der Verhältnisse in Ost und West zu erwarten und wo wird es eher zu einer Verfestigung der Unterschiede kommen?“ (Uniwebsite Jena, http://www2.uni-jena.de/journal/sfb/sfb580.htm sowie Projektseite des SFB, http://www.sfb580.uni-jena.de/typo3/9.0.html?&L=1&style=1, ausführlicher in der Dokumentation http://www.sfb580.uni-jena.de/Downloads/Book_SFB_e.pdf). Erforscht werden sollte, wie sich die gesellschaftliche Transformation in der ehemaligen DDR vollzogen hat und welche Konsequenzen dies für das Zusammenleben mit sich brachte. Der Fachbereich Soziologie war in diese Forschungen in theoretischer wie auch empirischer Hinsicht einbezogen. Unter Mitarbeit von Hartmut Rosa wurde ein theoretischer Überbau für die empirischen Erhebungen, zumindest in der entsprechenden Abteilung, entworfen. Fraglich ist, inwiefern diese „Theorie der Transformation“ überhaupt Einzug in die einzelnen Forschungsprojekte des SFBs gehalten hat, oder ob dieser nur den groben Rahmen darstellt, der die Ergebnisse im Nachhinein darunter subsumieren soll. Als theoretisches Fundament für die Beschreibung und Analyse des Transformationsprozesses wird in den Arbeiten Hartmut Rosas (und Steffen Schmidts; vgl. Rosa/Schmidt 2007) das Challenge-and-Response-Modell nach Arnold J. Toynbee verwendet. Toynbee, Universalhistoriker und Erforscher ganzer Zivilisationen, setzte sich das gleiche Ziel wie die Theoretiker des Rational-Choice-Paradigmas: Ein universelles Konzept menschlichen Handelns zu finden (Behaviorismus), mit dem sich alle demographischen Entwicklungen von historischem Ausmaß rückwirkend begründen, aber ebenfalls prognostisch modellieren ließen. Im Challenge-and-Response-Modell Toynbees, der seine Denkfigur anhand seiner Studien vom Aufstieg und Niedergang ganzer „Kulturen“ entwickelte und in seinem Opus Magnum A Study of History zwischen 1934 und 1961 publizierte, stellt sich der Lauf der Geschichte als eine Abfolge von Herausforderungen und Reaktionen auf diese Herausforderungen dar, in denen sich „Kulturen“ behaupten müssten. Er
„war an Regelmäßigkeiten in der Geschichte interessiert, die er durch die Rekonstruktion des Aufstiegs und Niedergangs von Kulturen gefunden zu haben glaubte. Theoretisches Destillat seiner Rekonstruktion ist die Vorstellung eines Lebenszyklus von Kulturen, dessen Verlauf entscheidend durch eine Sequenz von Challenges und Responses bestimmt wird. Dabei sorgt eine veränderliche Umwelt für stets neue Herausforderungen. Je nachdem, ob es in einer Gesellschaft Minderheiten gibt, die kreative Antworten auf aktuelle Herausforderungen finden und die Mehrheit von ihren Lösungen überzeugen können, wird eine Kultur wachsen, stagnieren oder untergehen. Entscheidend für das hier vorgebrachte Argument ist, dass Toynbee davon ausgeht, dass es eher schwierige Umweltbedingungen sind, die zu kreativen Kulturleistungen und damit zu sozialem Wandel führen. Diese allgemeine Denkfigur findet sich in einer Reihe weiterer Ansätze, auf die hier selektiv Bezug genommen wird, um eine präzisere Vorstellung möglicher Bewältigungsprozesse des demographischen Wandels zu gewinnen.“ (Sackmann/Bartl 2007: 147)
Unschwer zu erkennen ist das in diesem Modell angelegte Bewältigungsnarrativ, das in der gegenwärtigen Vorstellung vom globalisierten Zusammenleben der Menschen in einer permanenten Krise, die möglichst kreativ bewältigt werden muss, seine zugespitzte Fortführung erhält. Bemerkenswert scheint der Anachronismus, dass im klassischen Challenge-and-Response-Modell der Begriff der Kreativität auftaucht, darüber (einigen) Individuen weit mehr Spiel eingeräumt wird, und es daher näher an den ideologischen Leitlinien des heutigen Neoliberalismus erscheint, als dies in der zeitlich später entworfenen Rational-Choice-Theorie der Fall ist. Letztere beherrschte und beherrscht hingegen die Hochschulsoziologie in hohem Maße, wobei die Vermischung des Challenge-and-Response-Modells mit der Rational-Choice-Theorie naheliegt.
Der Zusammenhang zwischen beiden Theoremen besteht im Wesentlichen darin, dass sie ein behavioristisches Menschenbild teilen. Demnach seien menschliche Handlungen nach dem Prinzip: „Immer, wenn …, dann …“ modellierbar – jene „Regelmäßigkeiten des sozialen Wandels“, für die sich viele vermeintliche Historiker*innen, Soziolog*innen, aber auch Wirtschaftswissenschaftler*innen interessieren. Die Verwobenheit des Challenge-and-Response-Modells mit Thesen der Rational-Choice-Theorie ergibt sich daraus, dass beider Menschenbild notwendig ist, um eine ultimative, deterministische Verbindung zwischen kollektiven Phänomenen und den oftmals willkürlich erscheinenden Handlungen der einzelnen Individuen herzustellen – eine Denkbewegung, die als „Methodologischer Individualismus“ in die soziologischen Lehrbücher eingegangen ist. Solchen Modellen eignet die Grundannahme, dass zwischen der Mikroebene des Individuums und zwischen der Makroebene des Kollektivs – wohlgemerkt: nicht der Gesellschaft! – in naturwissenschaftlicher Manier vermittelt werden kann, z.B. durch den quasi-mathematischen Vorgang des Aggregierens mittels einer Aggregationsregel, wie prominent im „Badewannen“-Modell James S. Colemans veranschaulicht:
In der Rational-Choice-Theorie baut die Aggregationsregel noch auf dem Menschenbild des homo oeconomicus auf – einem Menschen, der sich seiner Umwelt gegenüber immer im Sinne einer Maximierung seiner Gunsten und einer Minimierung seiner Kosten verhalten würde. Dieses Verhalten sei vernünftig; daher die Bezeichnung „Theorie rationaler Entscheidungen“. Im verlautbarten postmaterialistischen Zeitalter, in dem zumindest die globalen Eliten ihrer Einstellung nach angekommen sind, kann dieses Menschenbild als alleinige Aggregationsregel jedoch nicht mehr herhalten – zu viele „Randbedingungen“ müssen das einfache Rechenmodell verzerrt haben, sodass sich seine Fehlleistungen gar nicht mehr kaschieren ließen. Unterdessen erscheint spätestens seit der Finanzkrise des Jahres 2008 jedes Phänomen als Herausforderung, als Challenge, die nicht mehr nur eine kleine Gruppe von kreativen Köpfen, sondern jedes Individuum für sich bewältigen muss. Hierfür steht seit Jahrzehnten schon eine ganze pseudo-soziologische und -sozialpsychologische Sparte bereit, die Bewältigungsforschung (vgl. Sackmann/Bartl 2007: 148ff.), deren Anhänger*innen Konzepte, Modelle und Theorien entwerfen, mit denen die Verwaltbarkeit des Status Quo für rational erklärt wird, die ihrerseits in ebenso scheinrationalen Anleitungen für kreative, ressourcenorientierte Responses mündet. Dergestalt wird eine jede Soziologie zur Bewältigungsforschung.
Dessen müssen sich die Initiatoren des SFB 580 in Jena bereits bewusst gewesen sein, als sie auf das Challenge-and-Response-Modell zurückgriffen, um einmal mehr die Wiedervereinigung Deutschlands und, vor allem, die Zeit danach zu legitimieren. Diese Legitimation bestätigt en passant die These des Einflusses der soziologischen und historischen Wissenschaft auf die öffentliche Meinung, da die Mitglieder des SFB 580 Teil der Redaktion eines entsprechenden Dossiers der Bundeszentrale für politische Bildung sind. Gezeigt, nein, mehr noch: bewiesen werden sollte, dass die deutsche Einheit zwar in der Tat eine besonders schwere Herausforderung für die Deutschen gewesen sei, eine von wem auch immer (Gott? Natur?) dem deutschen Volke auferlegte Prüfung, eine echte Challenge eben. Gleichwohl habe dieses Volk aber die richtigen Responses gefunden, die richtigen Anpassungsstrategien, und durch die Bewältigung dieser harten Krise müsse am Ende ein Zuwachs an Glück und Kraft und ihresgleichen mehr stehen, selbst wenn er durch die von der Krise unmittelbar Betroffenen noch nicht erkannt würde.
Die Aggregationsregel wird undurchsichtiger, wie auch das Schema des Basismodells Challenge-and-Response (Abb. 2) kaum noch sinnhaft erfasst werden kann. Parallel wird vom Individuum auf der Mikroebene wesentlich mehr verlangt. Es entscheidet nicht mehr nur nach seinen Gunsten, zu seinem Vorteil, sondern es reagiert auf komplexe Herausforderungen, die ihm ein unzugängliches, abstraktes Außen stellt, es bewältigt sie, um… ja, was eigentlich? An keiner Stelle wird erklärt, warum das Individuum Herausforderungen bewältigen muss. Dies bedeutet nicht, dass keine Erklärungen existieren; sie sind bloß nicht auf der Oberfläche ausgewiesen und harren einer hermeneutischen Feinanalyse, die auch wir an dieser Stelle nicht zu leisten vermögen. Eines jedoch wird sehr deutlich, wenn wir uns den Übergang vom SFB 580 zum Kolleg Postwachstumsgesellschaften an der Uni Jena genauer ansehen: Das Festhalten an der grundsätzlichen quasi-soziologischen Erklärbarkeit von Phänomenen auf der Makroebene bedeutet den Wunsch, Phänomene auf der Makroebene prognostizieren, modellieren, beeinflussen zu können. Dem Aggregationsgedanken wohnt die Vorstellung inne, dass, wenn sich jedes Individuum auf eine bestimmte Art den unvorhersehbaren Challenges der Umwelt stellte, die Zukunft der ganzen Menschheit endlich doch vorhersehbar und damit beherrschbar werde. Die rückwirkende Begründung der Erscheinungen auf der Makroebene durch individuelles Verhalten und Handeln auf der Mikroebene im Falle der deutschen Wiedervereinigung, eingebettet in ein scheinbar komplexes Challenge-and-Response-Modell (statt eines nicht mehr angemessenen, der Rational-Choice-Theorie entsprungenen homo oeconomicus), erlaubt eben jenen fließenden Transfer in die Gegenwart der degrowth-Bewegung und, mehr noch, in die Zukunft der Postwachstumsgesellschaften, der bereits im Antragsschreiben an den DFG explizit gemacht wurde.
Rosa liest Marx. Von einigen theoretischen Grundlagen der degrowth-Bewegung
Dreh- und Angelpunkt der Gesellschaftsanalyse, an dem moderne Gesellschaften Probleme bekommen, ist der Begriff des Wachstums. Dieses Paradigma finden, untersuchen und kritisieren die Theoretiker Rosa, Dörre und Lessenich in ihren wissenschaftlichen Arbeitsbereichen. Diese sind im Sinne einer Systemtheorie getrennt in Arbeitssoziologie (Wirtschaft), politische und kulturelle Forschungsbereiche der Soziologie. Was für Klaus Dörre seine Theorie der Landnahme, ist für Stephan Lessenich die Aktivierungspolitik des Sozialstaates und bei Hartmut Rosa die Beschleunigung. Die einzelnen Zeitdiagnosen und theoretischen Entwürfe ergeben durchaus Sinn, der gesellschaftliche Status Quo wird treffend beschrieben, und die Autoren weisen eine für die soziologische Theorie in Deutschland kritische Tendenz aus. Dennoch ist auffällig, dass alle drei ohne Schwierigkeiten ihre Diagnosen mit dem Begriff des Wachstums begründen können. Die Steigerungslogik wird aus ihrer Sicht mit Bezug auf Karl Marx durch die kapitalistischen Gesetze der Ökonomie geschaffen. So muss in der Kapitallogik stets Mehrwert produziert werden, der wiederum als Kapital reinvestiert wird. Dieser Prozess würde eine Wachstumsspirale in Gang setzen, der alle Menschen, selbst die Eigentümer von Produktionsmitteln gehorchen müssen, um sich im Wettbewerb beweisen zu können. Ein ausführlicherer Bezug auf Karl Marx findet sich aber höchstens in Hartmut Rosas Beitrag „Klassenkampf und Steigerungsspiel: Eine unheilvolle Allianz. Marx’ beschleunigungstheoretische Krisendiagnose“ für den Band Nach Marx (2013). Eine erste Schwierigkeit dieses Textes liegt darin, dass sich Rosa offensichtlich kaum einer eigenständigen Lektüre Marx’ gewidmet hat, denn seine Hauptquelle ist das Kommunistische Manifest Marx’/Engels’, aus dem er ellenlange Passagen zitiert, um damit Thesen zu belegen, die weder Marx noch Engels gemeint haben können, etwa:
„Was Marx beschreibt, ist die Umstellung der Gesellschaft – zunächst ihrer Produktionsweise, darüber vermittelt aber schließlich ihrer gesamten Grundstruktur – auf das Prinzip dynamischer Stabilisierung. Dies besagt, dass der Kapitalismus sich nur durch Steigerung zu reproduzieren vermag, dass er, mit anderen Worten, auf Wachstum, Beschleunigung und unaufhörliche Innovierung angewiesen ist, um sich in seiner Struktur zu erhalten und den Status quo zu sichern.“ (Rosa 2013: 397; Hervorhebung i.O.)
An welcher Stelle des Manifestes beschreibt Marx die Umstellung der Gesellschaft auf „dynamische Stabilisierung“? Was ist die „gesamte Grundstruktur“ der Gesellschaft, warum wird sie „schließlich“ verändert? Seit wann ist „der Kapitalismus“ bei Marx handelndes Subjekt, das auf Wachstum und vor allem Beschleunigung angewiesen ist?
Uns geht es an dieser Stelle um viel mehr als Polemik. Die Verfahrensweise Rosas mit den Denkfiguren Marx’ zeigt nämlich präzise, wie und warum sich die Postwachstumsbewegung als dezidiert kritische Bewegung und deren Theorie als eine kritische Theorie verstehen will und, wenn nicht genau gelesen wird, auch verstehen kann. Wir wollen auf die notwendige Kleinstanalyse zum jetzigen Zeitpunkt zugunsten des Überblickscharakters unseres Beitrages verzichten und nur einige Kernprobleme von Rosas Marxrezeption benennen.
Hartmut Rosa versteht Marx’/Engels’ Kommunistisches Manifest nicht als Manifest, also nicht als „Grundsatzprogramm für den Bund der Kommunisten“ (so viel wird selbst im Duden-Fremdwörterbuch verraten), mit dem seine Verfasser zu einem konkreten Zeitpunkt (1848) agitieren wollten. Das kritisiert er gar. Es sei „bedauerlich, dass das Kommunistische Manifest in der Geschichte der Moderne ganz überwiegend und ganz einseitig als ein Dokument des Klassenkampfes“ gelesen worden sei (ebd.: 398; Hervorhebungen i.O.). Rosa hingegen versteht das Manifest als theoretischen Beitrag, der seine eigenen Thesen dort zu stützen vermag, wo dies Rosa in den Kram passt (s. obiges Beispiel mit dem Begriff der Beschleunigung). Ihm fällt deshalb nicht schwer, einen Zusammenhang zwischen dem Werk Kapital und dem Manifest herzustellen, der ihn von der quälend anspruchsvollen Lektüre des ersteren befreit:
„Was Marx und Engels auf diese Weise im Kommunistischen Manifest in unerhörter Eindringlichkeit vor Augen führen, findet sich dann im Kapital akademisch-detailliert in seiner elementaren Prozesslogik rekonstruiert. Im Mittelpunkt steht dabei die Einsicht, dass das Kapital als der sich (mittels der Arbeit) ‚selbst verwertende‘, unaufhörlich prozessierende und in seiner Bewegung ‚maßlose‘ Wert [Zitate aus: Marx, Kapital, Erster Band/MEW 23, 1956ff.a: 165-168; Ergänzung der Autorinnen] als das eigentliche Subjekt der Steigerungslogik, oder genauer: des Steigerungszwangs, fungiert.“ (Rosa 2013: 400)
Aus dem Kapital zitiert Rosa in seinem Beitrag zu Marx immerhin zweimal. Zunächst, wie aus obigem Zitat hervorgeht, um zu belegen, dass das Kapital als eigentliches „Subjekt der Steigerungslogik“ fungiere. Diese These mutet fragwürdig an, da die Zitate dem Kapitel „Verwandlung von Geld in Kapital“ entnommen sind, in der Marx’ vollständige Sätze eine komplexe Analyse der Verwandlung von Geld in Kapital ergeben. Rosas Aussage, dass „das Kapital Subjekt einer Steigerungslogik“ werde, erscheint aus dem Kontext gerissen und nicht durchdacht. Marx entwickelt einen konkreten Begriff des Wertes, so dass er folgern kann: „Der ursprünglich vorgeschoßne Wert erhält sich daher nicht nur in der Zirkulation, sondern in ihr verändert er seine Wertgröße, setzt einen Mehrwert zu oder verwertet sich“ (Marx 1956ff.a: 165). Wie wir sehen können, kommt die Formulierung „der Wert (…) verwertet sich“ bei Marx in der Tat vor. Jedoch beim Subjekt dieses Satzes müsste Hartmut Rosa notwendigerweise auffallen, dass Marx eben nicht vom Kapital, sondern vom Wert, der sich selbst verwerte, schreibt. Das heißt, dass es rein semantisch keinen Sinn ergeben kann, unter Rekurs auf Marx vom „Kapital als (…) Wert“ zu schreiben, wie dies Rosa macht. Auf dieser Komplexitätsreduktion und Selektion, mit der er die kapitalistischen Produktionsverhältnisse einer Analyse unterzieht, baut die Postwachstumsforschung zumindest Jenaer Couleur auf, und das mit dem Bewusstsein, über Marx noch hinausgegangen zu sein. Denn Marx/Engels hätten nicht erkannt, dass die „Eskalationslogik“, die im Begriff des Klassenkampfes enthalten sei, schließlich „niemand anderem als dem neoliberalen Gegner in die Hände spiele und das unheilvolle Spiralsystem, welches jener betreibt, in Gang hält“ (Rosa 2013: 405).
Ferner zeichnet Rosa „die Linke“ dafür verantwortlich, durch deren Festhalten an diesem Klassenkampf neoliberale kapitalistische Verhältnisse zu perpetuieren. Sie würde nämlich nicht erkennen, dass die „Sieger“ dieses Kampfes gar keine Sieger seien, sondern arme, kranke Opfer eines „Steigerungsspiels“, als welches sich der Kapitalismus letztlich darstellen ließe. Die Beispiele hierfür sind suizidgefährdete Manager, also Verwalter, und höhere Konzernangestellte – die in der Tat sehr viel Lohn erhalten, die aber eben nicht die Eigentümer der Produktionsmittel und des Kapitals (und dessen „Wachstums“, des Mehrwerts) sind, sondern Angestellte, die die Eigentümer der Produktionsmittel und des Kapitals einsetzen, um dieses möglichst profitabel zu verwalten. Hartmut Rosa versteht den Klassenkampf also nicht als Kampf um die Produktionsmittel und die Ware Arbeitskraft, die letztlich, in einer besseren Gesellschaft, Allgemeingut würden, sondern als Kampf der Zugehörigen zur höheren Angestelltenklasse gegen die im Niedriglohnsektor Beschäftigten (vgl. ebd.: 406ff.). Diese beiden Gruppen würden untereinander an einem Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel beteiligt sein („kein harmloses Spiel, sondern eins auf Leben und Tod“!), während das eigentliche Problem aber nicht die ungerechte Verteilung der jeweils erbeuteten „Männchen“ sei, sondern die Entfremdung, die alle gleichermaßen verspürten, unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zur Sieger- oder Verliererseite (ebd.: 407f.). Dass im Zusammenhang mit Kapitalismus die Spielallegorie gebraucht wird, ist nicht neu; Marx hat dies selbst – übrigens auf just den Seiten des Kapitals, aus denen Rosa zitiert – thematisiert (vgl. z.B. Marx 1956ff.a: 165n4). Für ein tieferes Verständnis der „soziologischen“ Grundlagen des Kollegs Postwachstumsgesellschaften – weiterhin im Sinne eines exemplarischen pars pro toto – wollen wir uns ausführlicher mit dem Begriff der Entfremdung auseinandersetzen, da diesem eine Schlüsselfunktion in der Argumentationslogik der Postwachstumsforschung in Jena zukommt. Mit folgendem Absatz endet Rosas Beitrag zu Marx:
„Der Kapitalismus bzw. das Privateigentum, schreibt Marx in den frühen Pariser Manuskripten, sei nicht etwa die Ursache, sondern schon ‚das Produkt, das Resultat, die notwendige Konsequenz der entäußerten Arbeit, des äußerlichen Verhältnisses des Arbeiters zur Natur und zu sich selbst‘, es ergebe sich ‚aus dem Begriff des entäußerten Menschen, der entfremdeten Arbeit, des entfremdeten Lebens, des entfremdeten Menschen.‘ [Zitat aus Marx, Ökonomisch-Philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844/MEW Bd. 40, 1956ff.b: 520f.; Ergänzung der Autorinnen]. Das aber heißt: Die Ungerechtigkeit resultiert aus der Entfremdung, aus einem verfehlten Weltverhältnis des Menschen; daher gibt es gute Gründe für die Hoffnung, dass sie mit ihm auch verschwindet. (…) Wenn sich Angst und Begehren vom Spielbrett lösen und den Grundfragen des Lebens zuwenden, werden sich auch neue Spiel- und Verteilungsregeln finden. Dann nämlich werden beide Seiten des Klassenkampfes erkennen, dass ihr Hauptfeind nicht auf der anderen Seite des soziokulturellen Grabens steht, dass sie vielmehr beide die Gefangenen und Sklaven der Kapitalbewegung und ihrer Steigerungszwänge sind. (…)“ (Rosa 2013: 410f.; Hervorhebungen i.O.)
Rosa setzt demnach „den Kapitalismus“ mit Privateigentum gleich. Mehr noch, er greift sich auch hier einzelne Wörter Marx’ heraus, um seinen eigenen Entfremdungsbegriff als durch Marx scheinbar legitimierten kritischen Begriff zu etablieren. Dass Marx in genau jenen „frühen Pariser Manuskripten“ in genau jenem Abschnitt zur entfremdeten Arbeit herleitet, warum in der kapitalistischen Nationalökonomie „die ganze Gesellschaft in die beiden Klassen der Eigentümer und der eigentumslosen Arbeiter zerfallen muß“ (Marx 1956ff.b: 510; Hervorhebungen i.O.), läuft der gegen den Klassenkampf gerichteten Hauptargumentationslinie Rosas zuwider, wird jedoch nicht von ihm thematisiert. Auch vollzieht er nicht nach, wie und warum Marx den Begriff der Entfremdung prägt. Sonst hätte er sich damit auseinandersetzen müssen, dass Entfremdung bei Marx die spezifische Bedeutung der Entfremdung des Arbeiters von und in seiner Tätigkeit, also dem Akt der Produktion, und vom Produkt seiner Arbeit und dadurch der Entfremdung des Arbeiters von sich selbst erhält (vgl. ebd.: 515). In der idealistischen Welterklärung der Postwachstumsforscher*innen wird diese Denkfigur Marx’ nivelliert, da die Kategorie der Arbeit – zumindest an dieser Stelle der Auseinandersetzung Rosas mit Marx – höchstens eine phänomenologisch-empiristische, mitnichten aber eine zentrale analytische Kategorie bildet. Zu einer weiteren, gerade innerhalb der Postwachstumsbewegung doch für so wichtig erklärten, aber ebenfalls vernachlässigten Kategorie, nämlich der der Natur, schreibt Marx in selbigem, von Rosa zitiertem Abschnitt zu entfremdeter Arbeit:
„Die Universalität des Menschen erscheint praktisch eben in der Universalität, die die ganze Natur zu seinem unorganischen Körper macht, sowohl insofern sie 1. ein unmittelbares Lebensmittel, als inwiefern sie (…) die Materie, der Gegenstand und das Werkzeug seiner Lebenstätigkeit ist. Die Natur ist der unorganische Leib des Menschen, nämlich die Natur, soweit sie nicht selbst menschlicher Körper ist. (…) Indem die entfremdete Arbeit dem Menschen 1. die Natur entfremdet, 2. sich selbst, seine eigne tätige Funktion, seine Lebenstätigkeit, so entfremdet sie dem Menschen die Gattung; sie macht ihm das Gattungsleben zum Mittel des individuellen Lebens. (…) Der Mensch (…) ist nur ein bewußtes Wesen, d.h., sein eignes Leben ist ihm Gegenstand, weil er ein Gattungswesen ist. Nur darum ist seine Tätigkeit freie Tätigkeit. Die entfremdete Arbeit kehrt das Verhältnis dahin um, daß der Mensch eben, weil er ein bewußtes Wesen ist, seine Lebenstätigkeit, sein Wesen nur zu einem Mittel für seine Existenz macht.“ (Marx 1956ff.b: 515f.; Hervorhebungen i.O.)
Diese, hier nur ansatzweise rekonstruierte Argumentationskette, lässt Marx dann jene Sätze formulieren, die Rosa verzerrt für seine Argumentationszwecke gebraucht:
„Das Privateigentum ist also das Produkt, das Resultat, die notwendige Konsequenz der entäußerten Arbeit, des äußerlichen Verhältnisses des Arbeiters zur Natur und zu sich selbst. – Das Privateigentum ergibt sich also durch Analyse aus dem Begriff der entäußerten Arbeit, d.i. des entäußerten Menschen, der entfremdeten Arbeit, des entfremdeten Lebens, des entfremdeten Menschen. – Wir haben allerdings den Begriff der entäußerten Arbeit (des entäußerten Lebens) aus der Nationalökonomie als Resultat aus der Bewegung des Privateigentums gewonnen.“ (ebd.: 520)
Wie kann Rosa daraus folgern, „die Ungerechtigkeit“ resultiere aus „der Entfremdung“? Was ist das „verfehlte Weltverhältnis des Menschen“, das sich sofort ins Lot bringen ließe, wenn er sich nur vom Spielbrett des Kapitalismus mit seiner Steigerungslogik wegdrehe? Mithilfe dieses Kurzzitats lässt sich bereits nachvollziehen, wie stark die in der Aggregationsregel angelegte Phantasie, das Individuum könne „das Ganze“ bewegen und direkt beeinflussen durch seine Handlungen, also die Formel „Fangen wir bei jedem einzelnen von uns an, dann ändern wir die Welt“ der degrowth-Bewegung, durch scheinbar soziologische und sozialphilosophische Denkfiguren beeinflusst ist. Der immerhin zehnseitige Eintrag „Entfremdungsdiskussion“ im Historisch-Kritischen Wörterbuch des Marxismus dokumentiert ferner, dass eine umfangreiche Debatte zum Begriff der Entfremdung bei Marx existiert: „‚Entfremdung‘ (…) ist zweifellos einer der zentralen und zugleich umstrittensten Begriffe des Marxismus“ (Ghisu 1997: 469).
Leider dampft Rosa seinen an sich schon kurzen und dem Diskussionsstand nicht gerecht werdenden Beitrag zu Marx für seine Resonanz-Monographie auf zwei Seiten ein (Rosa 2016: 301; 310) ein. Zwar erkennt er darin immerhin an, dass „es sich bei Entfremdung um eine sozialphilosophisch und im Anschluss an Rousseau, Hegel und Marx ideengeschichtlich wohletablierte und breit diskutierte Kategorie“ handele, „die insbesondere im Umfeld der Theorietradition der Kritischen Theorie (…) eine zentrale Rolle spielte (…)“ (ebd.: 299). Er ergänzt jedoch zusätzlich: „Nimmt man diese Passage (i.e. die Passage Marx’ über entfremdete, entäußerte Arbeit; Anm. die Autorinnen) ernst, dann legt sie den Gedanken nahe, dass der Kapitalismus selbst die Folge eines über die Form der Arbeit vermittelten und in ihr sich entfaltenden falschen oder problematischen Weltverhältnisses ist“ (ebd.: 310). Wir denken, dass Rosa Marx eben nicht sonderlich ernst nimmt, weshalb seine Deutung der Passage uns halbherzig vorkommt.
Neuer Mensch – Postwachstumsmensch? Zur Einhegung des voluntaristischen Individualismus
Um zu unserer ersten These zurückzukehren: Dort, wo Marx vom Menschen als Gattungswesen, von Naturbeherrschung und Arbeit, von der kapitalistischen, nationalökonomisch organisierten Gesellschaft, die in zwei Klassen zerfällt, und dem in und durch Arbeit vergesellschafteten Menschen und also von der Vermittlung der Gesellschaft im Bewusstsein des Menschen schreibt, ist in der Postwachstumsforschung im Anschluss an die Transformationsforschung (SFB 580 – Wiedervereinigung) ein undurchsichtiges Aggregationsschema, mit dem vom Individuum auf das Kollektiv geschlossen werden soll vorgesehen. Im Challenge-and-Response-Modell sind Kategorien wie „Holismus – Individualismus“ und „Materialismus – Idealismus“ sowie „Gesellschaftliche Selbstbeschreibungen/Leitbilder“, „Soziale Institutionen und Praktiken“, „Reflexives Selbstbild“ und „Habitus“, in Vierecken und Pfeilen angeordnet, die erklären sollen, wie sich die „Makroebene“ zur „Mikroebene“ verhält und vice versa (vgl. Abb. 2). „Entfremdung und/oder Zerfall von Institutionen“ wird irgendwo zwischen „Reflexivem Selbstbild“ und „Habitus“ platziert, scheinbar dem Ausdruck einer Challenge gleich, die auf der Skala von mikro nach makro näher an mikro, aber nicht so nah wie „Identitätskrise; Psychopathologien“ ist. Für die ultimative Challenge, das Wachstum, das das Leben auf der Erde bedrohe und Entfremdung erzeuge, wird nun nach einer adäquaten Response gesucht.
Die angeblich bei Marx beschriebene dynamische Stabilisierung bedeute, dass moderne Gesellschaften nur stabil seien, wenn sie sich mittels einer Steigerung reproduzieren. Auffällig ist, dass dieser Begriff stärker auf die kulturelle Ebene verweist als der Begriff des Wachstums. Die Steigerungslogik sei, wie wir gesehen haben, ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, das auch die Kultur und die Politik betrifft und von diesen Teilsystemen der Gesellschaft reproduziert werde.
Das Problem mit dem attestierten Wachstum, so konstatieren die Verfasser des DFG-Antrags zum Kolleg Postwachstumsgesellschaften in Jena, zeigt sich nun in der ökonomisch-ökologischen Krise:
„Wachstums – und Wohlfahrtssteigerung fallen auseinander, technisch – ökonomisches Wachstum ist selbst zum Krisentreiber geworden. Damit stellt sich auch für die Soziologie die Frage nach den Wechselbeziehungen zwischen dynamischer Selbststabilisierung und den Legitimationsprinzipien moderner Gesellschaften neu. Möglicherweise hat, so die These der Antragsteller, die Steigerungslogik fortwährender Landnahmen, Beschleunigungen und Aktivierungen einen kritischen Schwellenwert überschritten, an dem die Dynamisierungsimperative der kapitalistischen Moderne selbst zur Disposition stehen.“ (DFG-Antrag o.J.: 1)
In der Literaturliste des Antragstextes wird Marx’ Kapital ebenso genannt wie Rosa Luxemburgs Schrift „Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus“ (Original 1913) – ohne, dass diese beiden im Fließtext als Verfasserin/Verfasser dieser Texte diskutiert würden. Der einzige direkte Verweis auf Marx bleibt eine Abgrenzung: „Anders als von Marx prognostiziert, hat sich – sozial geschützte – Lohnarbeit in der Ära eines prosperierenden Wohlfahrtskapitalismus über viele Jahrzehnte als gigantische gesellschaftliche Integrationsmaschine erwiesen“ (DFG-Antrag o.J.: 12). Statt offen den Klassenkampf auszutragen, kämen wir in jener sich zuspitzenden ökonomisch-ökologischen Doppelkrise an, so die drei Antragsteller Dörre, Lessenich und Rosa, für die im Grunde nur zwei Auswege existieren: „One is to make growth sustainable; the other is to make de-growth stable“ (Jackson 2009: 128); deshalb der Vorschlag der Wissenschaftler, die hier bestehende Gesellschaft in eine Postwachstumsgesellschaft zu transformieren, die sich dadurch auszeichnen würde, dass sie nicht auf Wirtschaftswachstum angewiesen wäre, um als Gesellschaft zu funktionieren. Dabei wollen die Antragsteller „das Kolleg als Laboratorium nutzen, um die Transformation kapitalistischer Wachstumsregimes analytisch zu erfassen und kritisch zu begleiten“ (DFG-Antrag o.J.: 1; Hervorhebung der Autorinnen). Die konkreten Forschungsziele und -fragen beinhalten u.a. „das Vergesellschaftungspotential von (Erwerbs-)Arbeit und sozialen Verteilungs-Konflikten“, „das Verhältnis von ökonomischem Wachstum, Prosperität und ‚gelingendem Leben‘“, „Was bedeutet der potentielle Übergang zu Nicht-Wachstum für die Organisation gesellschaftlicher Arbeit und die Funktion sozialer (Klassen-)Konflikte?“ sowie „Kann der Übergang zu Nicht-Wachstumsgesellschaften demokratisch eingehegt und bewältigt werden?“ (ebd.: 10f.).
Bemerkenswert hier der Ersatz des Präfixes „Post-“ durch „Nicht-“, vor allem jedoch die wiederholte Sinnentleerung der Begriffe Vergesellschaftung, Arbeit und „(Klassen-)Konflikte“, während „gelingendes (sic! nicht etwa: gutes) Leben“ und „Bewältigung“ wie selbstverständlich zum Vokabular einer sich für kritisch befindenden Gesellschaftsanalyse werden. Wir sehen an dieser Stelle im Übrigen präzise, wie das für den SFB 580 entwickelte und darin bereits erprobte Challenge-and-Response-Modell, in dem, wie aus unserer ersten These sichtbar wurde, Bewältigung zu einer zentralen Kategorie der Gesellschaftstheorie erkoren wird, im Folgeantrag fortwährt. Interessant auch die im weiteren verlautbarten „theoretischen Innovationen“, unter denen die „Soziologie der Weltbeziehung in gesellschaftskritischer Absicht“ (unsere Hervorhebung), also Hartmut Rosas „Frage, auf welche Weise sich die dreifache, verschränkte Steigerungslogik von Wachstum, Beschleunigung und Innovationsverdichtung auf das kulturelle Weltverhältnis bzw. die Weltbeziehung der Subjekte auswirkt“ (ebd.: 15), uns gesondert interessiert. In Rekurs auf Rahel Jaeggis rehabilitierten Begriff der Entfremdung beschreibt Rosa diese Weltbeziehung als eine der Beziehungslosigkeit, „in der Subjekt und Welt einander indifferent oder feindlich und mithin innerlich unverbunden gegenüberstehen“ (Rosa 2016: 316).
Die Gegenüberstellung von Mensch und Natur beginnt für ihn nicht – wie etwa bei Hegel und Marx – mit der Existenz des Menschen, sondern sei lediglich Resultat einer kapitalistischen Gesellschaft. Ein solcher „positiver“ Moment von Entfremdung, in dem sich der Mensch über die Natur erhebt und sie beherrscht, also die Ermöglichung von Zivilisation und Kultur, wird in seinem Verständnis von Entfremdung gänzlich ausgelassen. Wie wenig stringent die gegenwärtige Entfremdungsdiskussion verläuft, lässt sich daran aufzeigen, dass Rahel Jaeggi (gemeinsam mit Daniel Loick) fast ein Jahrzehnt nach Erscheinen ihres (einer separaten Besprechung würdigen) Buches Entfremdung (2005) binnen eines Jahres (2013) gleich zwei Publikationen zu Karl Marx mitherausgegeben hat. In die eine hat Hartmut Rosas oben ausführlich zitierter Beitrag Eingang gefunden, in die andere Lukas Küblers Aufsatz „Marx’ Theorie der Entfremdung“ (Kübler 2013), der von einer mindestens gewissenhaften Marxlektüre zeugt und doch eindeutig den Schlüssen Rosas widerspricht, etwa, weil sich Kübler der Genese des Begriffs der Entfremdung widmet. Wie diese Konstellation in die Welt kam und was Jaeggi über die beiden sehr unterschiedlichen Beiträge denkt, wissen wir nicht. Einen nicht hinnehmbaren Widerspruch stellt dieses Potpourri der Entfremdungsaufsätze für sie offensichtlich nicht dar, wie auch Rosas explizite Implementierung von Jaeggis Entfremdungskonzept im Kolleg Postwachstumsgesellschaften für sinnhaft und anschlussfähig erachtet wird. (Lohnenswert wäre daher eine Konstellationsanalyse der Protagonist*innen der gegenwärtigen deutschsprachigen Soziologie und Sozialphilosophie und deren Referenzen aufeinander.)
In Rosas Opus Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung soll der Entfremdung, die ihm, basierend auf Jaeggi, feindliche Weltbeziehung bedeutet, durch die Entwicklung einer resonanten Beziehung entgekommen werden. Die Menschen sollen so wieder in Einklang mit sich, anderen und der objektiven Welt kommen. Der Maßstab resonanter Beziehungen ist nicht mehr die Reichweite, sondern die Qualität:
„Als Maßstab für Qualität wiederum kann und soll dann nicht mehr die Steigerung, sondern die Fähigkeit und Möglichkeit zur Etablierung und Aufrechterhaltung von Resonanzachsen dienen, während Entfremdung […] und Verdinglichung als Seismographen der Kritik fungieren.“ (Rosa 2016: 725; Hervorhebung der Autorinnen)
Resonante Beziehungen können somit eher in Postwachstumsgesellschaften vorkommen, da die gegenwärtige wirtschaftliche Ausrichtung auf Wachstum eben nicht auf die Qualität von Beziehungen setzt, sondern auf bloße Steigerung.
Für die Gesellschaft des Postwachstums werden Menschen mit ganz besonderen Kompetenzen gebraucht, denn klar ist, dass der egoistisch-individualistische, auf sich selbst und seinen eigenen Vorteil bezogene Mensch der Moderne (der homo oeconomicus der Rational-Choice-Theorie) nicht genügend Nachhaltigkeitsbewusstsein für die neue Gesellschaft aufweist. Wir haben allerdings gesehen, dass die Handlungen und das Verhalten des einzelnen Menschen, des Individuums, im Challenge-and-Response-Modell einen Einfluss auf die Makroebene haben. Gunter Weidenhaus veröffentlichte 2015 auf der Website des Kollegs ein Working Paper (Quellenangabe), in dem er in Anlehnung an Hartmut Rosas Resonanz- und Beschleunigungstheorie den Sozialtypus der Postwachstumsgesellschaft vorstellt. Dieser „neue Mensch“ müsse mit den Raum-Zeit-Achsen der Moderne brechen. Der Postwachstumsmensch müsse völlig neue Kompetenzen entwickeln:
„Diese Kompetenz – damit glücklich sein zu können, was man hat – scheint mir für Postwachstumsgesellschaften unabdingbar. Gleichzeitig verlangt die mitgedachte Vernetzung der Regionen die Fähigkeit sich zumindest auf Zeit an die extrem anderen Bedingungen fremder Regionen anpassen zu können.“ (Weidenhaus 2015: 11; Hervorhebung der Autorinnen)
In Weidenhaus finden wir eine Stimme des Kollegs Postwachstumsgesellschaften, die nicht nur reinen Verzicht predigt, sondern zeigen auch den Gewinn des Verzichts aufzeigt. So gewinne der Mensch an Lebensqualität, er könne durch ein Leben fernab von Leistungsdruck ein besseres, ein gelingendes Leben führen – ein Leben voller kreativer Responses für die etwaigen Challenges, die das Leben mit sich bringt. Fast möchten wir hinzufügen: Und wer will, kann durch Verzicht und Achtsamkeit das neue Gefühl der Resonanz verspüren lernen! Kein Wunder also, dass die Postwachstumsbewegung, so gut ankommt. Schließlich schmeichelt dem Ego kaum etwas mehr denn die Vorstellung, etwas Gutes für alle zu tun und dabei selbst so glücklich zu sein. Rosas neo-idealistischer, voluntaristischer Individualismus bietet die perfekte theoretische Grundlage für dieses positive Gefühl. Ein Slogan könnte sein: „Tricksen wir ‚den Kapitalismus‘ einfach aus – glauben wir nicht mehr an ihn!“
Zurück zur Kritik
Selbstverständlich wollen wir nicht übergehen, dass Rosas Theorie auch von seinen Kollegen in Jena scharf kritisiert wird. Klaus Dörre schreibt z.B., dass die Beschleunigungstheorie „auf einem verkürzten, ja amputierten Kapitalismusverständnis“ beruhe (Dörre 2009: 185). Genau diese scheinbar unversöhnliche Kritik gehört aber zum Selbstbild des Kollegs:
„Einen Gegenstand in Veränderung vor Augen, schlagen die Antragsteller eine dialogische Arbeitsweise vor, die am Grundprinzip konstruktiver Kontroverse ausgerichtet ist. Diese Arbeitsweise ermöglicht es, unabgeschlossene, offene Prozesse sozialen Wandels über systematische Denkexperimente und diskursive Annäherungen zu bearbeiten. Das Format der Kolleg-Forschergruppe bietet ideale Voraussetzungen für ein solches gesellschaftswissenschaftliches Experimentierfeld. Die Antragsteller wollen das Kolleg als Laboratorium nutzen, um die Transformation kapitalistischer Wachstumsregime analytisch zu erfassen und kritisch zu begleiten.“ (DFG-Antrag o.J.: 1)
Wo diese konstruktive Kontroverse aufhören muss und welche Standpunkte für die Theoretiker*innen nicht mehr tragbar sind, wird nirgendwo dargestellt. Stattdessen wird ganz objektiv festgehalten, dass die Idee des Postwachstums in unterschiedlichen politischen Bewegungen Gehör finde:
„Und drittens verorten sich die Konzeptionen bezüglich politischer Traditionen im Sinne emanzipativer (eher linker) bzw. konservativer (eher rechter) Strategien. Das Nachdenken über Postwachstumsgesellschaften scheint für alle politischen Lager attraktiv (…): Konservative Parteien (in Deutschland CDU/CSU) sehen hier die Chance, spezifische Wertdebatten auf die Agenda zu setzen.“ (Weidenhaus 2015: 2)
Fraglich bleibt demnach, woran Kritik geübt wird; und nicht nur für uns. Peter Schulz, ausgerechnet ein Mitarbeiter Hartmut Rosas, macht mit: „Kritik woran? Zur Ambivalenz der kritischen Soziologie Hartmut Rosas“ (2015). Einmal mehr bezeugt dies, wie sehr Kritik und Kritisch-sein innerhalb solcher Institutionen zum Selbstbild gehört, gar eingefordert wird; nicht nur toleriert wird, sondern ausgezeichnet wird.
Als normative Grundlage weisen die Soziologen in Jena das „gelingende Leben“ aus: Gelingende Weltbeziehungen, Konstruktivität, Bewältigung von Entfremdung, Resonanz, Achtsamkeit. Diese Positivbeschreibungen trifft Harmut Rosa in scharfer Abgrenzung zur Kritischen Theorie, die vom Gegenentwurf zum Bestehenden, vom „guten Leben“, immer nur zu raunen wusste – statt zu brüllen, wie auf dem Jahrmarkt der soziologischen Eitelkeiten nicht unüblich.
von Alexandra Ivanova und Ellen Jaris
Literatur
Dörre, Klaus (2009). „Kapitalismus, Beschleunigung, Aktivierung – Eine Kritik“, in: Klaus Dörre/Stephan Lessenich/Hartmut Rosa (Autoren): Soziologie, Kapitalismus, Kritik. Eine Debatte. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 181-204.
DFG-Antrag (o.J.). „Antrag auf Förderung einer Kolleg-Forscherinnengruppe der DFG zum Thema Landnahme, Beschleunigung, Aktivierung. (De-)Stabilisierung moderner Wachstumsgesellschaften.“ Einsehbar unter:
kolleg-postwachstum.de/sozwgmedia/dokumente/Forschungsantrag/Forschungskolleg_Vollantrag_kurz.pdf
Ghisu, Sebastiano (PJ) (1997). „Entfremdungsdiskussion“, in: Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus, Band 3. Berlin: Argument, Spalten 469-480.
Jackson, Timothy (2009). Prosperity without growth. Economics for a finite Planet. London: Earthscan.
Kübler, Lukas (2013). „Marx’ Theorie der Entfremdung“, in: Rahel Jaeggi/Daniel Loick (Hg.): Karl Marx – Perspektiven der Gesellschaftskritik. Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 34. Berlin: Akademie, S. 47-66.
Marx, Karl (1956ff.a). Das Kapital. Erster Band/MEW 23. Berlin: Dietz et al.
Marx, Karl (1956ff.b). Ökonomisch-Philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844/MEW 40. Berlin: Dietz et al., S. 465ff.
Rosa, Hartmut/Schmidt, Steffen (2007). „Which Challenge, Whose Response? Ein Vier-Felder-Modell zur Challenge-Response-Analyse sozialen Wandels“, in: Dorothée de Neve/Marion Reiser/Kai-Uwe Schnapp (Hg.): Herausforderung – Akteur – Reaktion. Diskontinuierlicher Wandel aus theoretischer und empirischer Perspektive. Baden-Baden: Nomos, S. 53-72.
Rosa, Hartmut (2013). „Klassenkampf und Steigerungsspiel: Eine unheilvolle Allianz. Marx’ beschleunigungstheoretische Krisendiagnose“, in: Rahel Jaeggi/Daniel Loick (Hg.): Nach Marx. Philosophie, Kritik, Praxis. Berlin: Suhrkamp, S. 394-411.
Rosa, Hartmut (2016). Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp.
Sackmann, Reinhold/Bartl, Walter (2007). „Personalflexibilität im öffentlichen Dienst in Krisensituationen. Ein Challenge-Response-Modell“, in: Dorothée de Neve/Marion Reiser/Kai-Uwe Schnapp (Hg.): Herausforderung – Akteur – Reaktion. Diskontinuierlicher Wandel aus theoretischer und empirischer Perspektive. Baden-Baden: Nomos, S. 145-170.
Weidenhaus, Gunter (2015): „Lernen vom Rand der Gesellschaft? Zum Sozialtypus der Postwachstumsgesellschaft“. Working Paper 1/2015 der DFG-KollegforscherInnengruppe Postwachstumsgesellschaften.
Einsehbar unter:
kolleg-postwachstum.de/sozwgmedia/dokumente/WorkingPaper/wp3_2015.pdf