Zu Lenins Überzeugungen gehörte es, dass die urwüchsige Organisationsform des Industrieproletariats die Gewerkschaft sei und dieses, anders als es noch Marx hoffte, nicht aus sich heraus zur Revolution dränge. Verbittet sich angesichts der historischen Erfahrung zwar Lenins Folgeschritt, einer revolutionären Kaderpartei daher die Führung der Arbeiterschaft aufzutragen, so lässt sich doch festhalten, dass Lenin, zumindest mit seiner Analyse, anscheinend Recht hatte. Wo immer die kapitalistische Produktionsweise Fuß fasste, die Arbeiterschaft organisierte sich in Massenorganisationen und das collective bargaining war Mittel der Wahl im Klassenkampf. Spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts wiederum war diese Arbeiterschaft aber in die bürgerliche Gesellschaft integriert und der alltägliche Interessenkonflikt zwischen Arbeit und Kapital war ritualisiert und seiner revolutionären Sprengkraft beraubt.
Die politische Linke wiederum reagierte hierauf mit einer steten Suche nach einem neuen revolutionären Subjekt und die Geschwindigkeit, mit der die Projektionsflächen der eigenen revolutionären Sehnsucht wechselten, ließ die Restlinke zu atemlos zurück, um über die Sinnhaftigkeit des Unterfangens zu reflektieren. Egal ob nun die „unterdrückten Völker“ oder „die Szene“ an die Stelle des Proletariats treten sollten; gleich ob man, wie die Operaisten, den Begriff der Arbeiterschaft ausweitete, um noch den letzten Kleinbürger irgendwie zur revolutionären Masse dazurechnen zu können, oder man sich endgültig von der Revolution verabschiedete und lieber der rechtlichen Stellung von sexuellen oder ethnischen Minderheiten zuwandte – ein Nachdenken darüber, was das Ende des revolutionären Proletariats für die Linke selbst bedeute, fand nicht statt.
Linkes Studentenpack
Dabei war noch über die 1920er hinaus die Linke – ob radikal oder reformistisch – bis in ihre innere Verfasstheit eine proletarische. Die großen Massenorganisationen, ob Gewerkschaft, Partei oder paramilitärische Organisationen wie der Rote Frontkämpferbund, waren ebenso eine Folge dieser proletarischen Lebensrealität, wie die Kultur aus Arbeitergesangsvereinen und Sportbünden, die um jene Organisationen herum entstand. Die stärkste Waffe, die dem realen wirtschaftlichen Elend entgegengestellt werden konnte, war die Solidarität. Seine individuelle Lage konnte der gemeine Proletarier am effektivsten nicht durch Lohnverhandlungen als Individuum verbessern, sondern indem als Kollektiv gehandelt wurde, die gesamte Belegschaft geschlossen auftrat. Dies war eine so basale Erkenntnis, dass nicht erst sozialistische Aufrührer nötig waren, dies der Arbeiterschaft einzutrichtern: im Gegenteil führten ja gerade die frühen und oft sehr heftigen kollektiven Kämpfe des sich entwickelnden Proletariats Marx zur Annahme, dass es sich hierbei um die revolutionäre Klasse an sich handele, bzw. sie dies zumindest werden könne.
Wenn wir nun also bereits festgestellt haben, dass diese Arbeiterschaft vor einem halben Jahrhundert weitgehend befriedet wurde und – dies die große historische Errungenschaft des Faschismus ebenso wie der Sozialdemokratie – ihre Organisationen korporativistisch eingemeindet wurden, dann drängt sich die Frage auf, was von der Linken, insbesondere der radikalen, verblieb.
Die Antwort auf diese Frage findet sich in der Phrase von der „Studentenbewegung“, obwohl an den Unruhen in Frankreich, deren Höhepunkt ’68 zum Fanal und zur Generationsbezeichnung avancierte, noch Industriearbeiter in nicht unerheblicher Zahl beteiligt waren. Würde man heute wiederum eine soziologische Erhebung der radikalen Linken durchführen, dann wäre das Ergebnis wohl, dass diese zum großen Teil aus jungen, gut gebildeten Menschen aus klein- oder bildungsbürgerlichem Haushalt bestehe. Die Karrieren dieser Linken wiederum verlaufen meist über die Universität, mindestens aber über das Gymnasium, und wo sie nicht als sogenannte „Kreative“ enden, da machen sie sich selbstständig: mit einer Kneipe, einem Mail-Order oder einem anderen kleinen Gewerbe, dessen Kundenstamm aus den nachfolgenden jungen Radikalen besteht.
Die gegenwärtige Linke ist eine durch und durch kleinbürgerliche Veranstaltung, was diese sich aber allenfalls verschämt eingestehen würde. Einem Bekenntnis am nächsten kommen wohl noch Hardt und Negri, die kurzerhand die kleinbürgerlichen „irgendwas-mit-Medien“ Scheinselbständigen zur revolutionären Masse der Multitude verklären. Was dies konkret bedeutet ist dies: die radikale Linke rekrutiert sich vornehmlich aus einer Klasse1, zu deren Grundkonstitution es gehört, permanent untereinander zu konkurrieren. Die sogenannten Kreativen bilden eben keine Fabrikbelegschaft, die kollektiv in den Streik treten könnte, sondern prekäre Ein-Personen-Unternehmen, die sich gegenseitig die Aufträge neiden müssen. Und auch der linke Kneipenwirt muss schon aus Selbsterhaltungsgründen heraus in seinen Gästen vor allem den Inhalt ihrer Brieftaschen sehen, nicht aber Genossen im Klassenkampf.
Krieg der Kleinbürger
Was bedeutet dies aber nun für die Linke? Es bedeutet wohl vor allem, dass die Massenorganisationen des klassischen Industrieproletariats nicht deswegen aus der radikalen Linken verschwunden sind, weil vor dem Hintergrund des real existierenden Sozialismus ein Reflexionsprozess stattgefunden habe, dessen Ergebnis die Delegitimation selbiger war. Es ist wohl vielmehr so, dass diese Form der Organisierung einfach nicht mehr aduäquat für die Zusammensetzung der radikalen Linken war, die kein einheitliches Klasseninteresse mehr verband. Im Gegenteil ist doch gerade dies das konstitutive Merkmal des Kleinbürgertums: eine Klasse zu sein, die nur Partikularinteressen kennt.
Im Unterschied aber zum Großbürgertum sind die einzelnen Kleinbürger so prekär, dass sie ihre Partikularinteressen eher selten im Alleingang durchsetzen können. Das Kleinbürgertum kennt daher durchaus etwas, was Solidarität zu nennen zuviel der Ehre wäre, und analog zu Lenins Rede von der Gewerkschaft als naturwüchsige Organisationsform der Arbeiterschaft ließe sich auch für das Kleinbürgertum eine solche ausmachen: der Männerbund.
Männerbünde können formalisiert sein, wie das unselige Verbindungswesen der reaktionären Studentenschaft oder aber auch informell, wie der Stammtisch in der Dorfkneipe. Ihnen eigen ist, dass sich ihre Mitglieder gegenseitig in der Konkurrenz mit dem Rest der Gesellschaft unterstützen, also Kampfgemeinschaft im allgemeinen Wettbewerb sind. Da dieser Wettbewerb in der öffentlichen Sphäre der männlichen Subjektivität stattfindet, sind Männerbünde eben, wie der Name bereits verspricht, diesen männlichen Subjekten vorbehalten. Darin ähneln sich äußerlich so unterschiedliche Gruppen wie Rockerbanden und die korrupten Seilschaften der Lokalpolitik.
Wenn ich nun also behaupte, dass die radikale Linke nach genau diesen Prinzipien strukturiert ist, dann muss wohl der erste Einwand sein, dass die radikale Linke eben nicht rein männlich ist, dass in ihr allenfalls Frauengruppen einem Geschlecht verschlossen bleiben und dies eben gerade das männliche ist. Dieser Einwand muss sich aber relativieren, wenn nicht von biologischem Geschlecht, sondern von männlicher Subjektform die Rede ist, also jener gesellschaftlichen Konstitution des Individuums, die historisch dem Mann vorbehalten war, dem sich die Frau aber angesichts einer Emanzipation auf Boden eben dieser Subjektform anpassen soll, muss und real auch tut.2
Was sich aus einer solchen Betrachtung der radikalen Linken gewinnen lässt, ist nun Folgendes: dass die Zersplitterung der Linken in Kleingruppen, die oft nichteinmal mehr formal konstituiert sind, sondern bloß in losen Freundeskreisen bestehen, eine Folge ihrer Verkleinbürgerung ist. Diese Kleingruppen sind Kampfbünde, deren Mehrwert vor allem darin besteht, sich im allgemeinen Wettbewerb gegenseitig zu unterstützen, sich wirtschaftliche Gefälligkeiten zuzuschachern und real erfahrene Ohnmacht zu kompensieren, indem man sich in symbolischen und ritualisierten politischen Kämpfen ergeht, bzw. auf Demos als Kleingruppe mal richtig die Sau rauslässt.
Baby Fights
Für das Funktionieren von Männerbünden gibt es indes einige Vorraussetzungen. Eine davon ist das Fernhalten des Trieblebens ihrer Mitglieder aus der Gruppe. In den traditionellen Männerbünden geschieht dies bereits durch ihre geschlechtliche Zusammensetzung und fürderhin durch das Tabuisieren von Homosexualität und der ideologischen Aufwertung der Kameradschaft, ja, der erotischen Besetzung dieses Kameradschaftsverhältnisses selbst, so dass zwischen „bro’s before ho’s“ und homoerotischen Männlichkeitsritualen kein Platz für ein Liebesleben bleibt, das den Bund aufsprengen und die Kameradschaft auflösen könnte.
Ist geschlechtliche Einförmigkeit und Verbannung der Homosexualität als Mittel der innerbündischen Triebkontrolle für den Männerbund gewöhnlich konstitutiv, so wird dies in der radikalen Linken so ähnlich nur in Frauengruppen betrieben (nämlich unter Ausschluss des männlichen Geschlechtes) und auch dort ohne explizite Fernhaltung der Homosexualität, da dies dann doch zu sehr mit dem politischen Selbstbild kollidieren würde. Das allgemeinere Mittel, das die Linke zum Zwecke der Triebkontrolle gefunden hat, besteht vielmehr in ostentativer Infantilität, die in ihrer Idealisierung des Kindlichen bis ins Triebfeindliche hinübergeht. Einen treffenden Zustandsbericht über eben diese Infantilität liefert die AG Antifa3 und das Bild, das sie dafür findet, ist die Kinderbande aus dem Spielfilm „Krieg der Knöpfe“ von Yves Roberts. Was die AG Antifa aber nicht erfasst ist, dass die Infantilität der radikalen Linken keine bloße Sehnsucht nach der heilen Welt der Kindertage ist, sondern diese heile Welt bereits selbst auf den sozialen Hintergrund ihrer Protagonisten verweist (die eben nicht in einem „broken home“, in Armut oder anderweitig gewaltsam aufgewachsen sind, sondern in relativer Sicherheit und Geborgenheit) und die dieser Sehnsucht entsprießende performative Infantilität sich deswegen so großer Beliebtheit erfreut und sich so umfassend in der linken Szene durchsetzen konnte, weil sie einen praktischen Zweck erfüllt: sie garantiert das Funktionieren der linken Männerbünde, wo gegenseitiges Begehren ihren Zusammenhalt zu sprengen droht.
Sein und Unbewusstsein
Die andere wichtige Voraussetzung für das Funktionieren eines Männerbundes ist seine Abgrenzung nach außen. Dabei ist zweitrangig, wie diese Abgrenzung erfolgt und oft sind es nur graduelle Unterschiede und feine Nuancen im subkulturellen Auftreten, dem Habitus oder der ideologischen Rechtfertigung des eigenen Handelns, die nicht von sich aus die Gruppe als besonderes konstituieren (man denke nur an die K-Gruppen der ’70er oder an so manche moderne linke Kleingruppe, die sich unfähig zeigt, mit anderen Gruppen zusammenzuarbeiten, die inhaltlich doch das selbe verzapfen), sondern die im Gegenteil instrumentalisiert und aufgeplustert werden, bis das falsche Getränk, die falsche Kleidung oder die falsche Wortwahl die Menschen außerhalb der Gruppe von denen, die dazugehören, deutlich abgrenzen – zumindest in den Augen jener, die drinnen stecken.
Es gilt, was Adorno in der Minima Moralia an den Intellektuellen seiner Zeit beobachtet: „Auch solche Intellektuellen, die politisch alle Argumente gegen die bürgerliche Ideologie parat haben, unterliegen einem Prozess der Standardisierung, der sie, bei krass kontrastierendem Inhalt, durch die Bereitschaft, auch ihrerseits sich anzubequemen, dem vorherrschenden Geist so nahebringt, dass ihr Standpunkt sachlich immer zufälliger, bloß noch von dünnen Präferenzen oder von ihrer Einschätzung der eigenen Chance abhängig wird. Was ihnen subjektiv radikal dünkt, gehorcht objektiv so durchaus einer für ihresgleichen reservierten Sparte des Schemas, dass der Radikalismus aufs abstrakte Prestige hinunterkommt, Legitimation dessen, der weiß, wofür und wogegen ein Intellektueller heutzutage zu sein hat. Die Güter, für die sie optieren, sind längst ebenso anerkannt, der Zahl nach ebenso beschränkt, in der Werthierarchie ebenso fixiert wie die der Studentenbrüderschaften.“ 4
Die patchwork-Ideologeme moderner Linker mögen durchaus willkürlich zusammengewürfelt wirken, sie folgen aber einem klaren Schema. Der Bezug einer männerbündischen Gruppe zum Denken ist stets ein instrumenteller und wo sich ein Männerbund als politische Gruppe konstituiert, unterwirft dieser instrumentelle Bezug das politische Denken seiner Mitglieder den Bedürfnissen der Gruppenidentität. Wichtig ist dann nur noch, die Ideologie nach außen zu kehren, sie als Mittel der Abgrenzung zu verwenden. Reizvoll sind all jene Theorien, die einerseits mit einem Gestus von kompromissloser Radikalität aufwarten und andererseits auch genug Abgrenzung zu anderen, funktionell eigentlich gleichen, Männerbünden versprechen. Innere Konsistenz muss nichts davon haben, was den wirren Mix teils sich widersprechender Theorien in so mancher linken Gruppe erklärt und das beharrliche Schweigen über noch so offensichtliche Streitpunkte innerhalb noch jener Gruppen, die auf Veranstaltungen als Kollektiv über jene herfallen, die sich zum Beispiel erdreisten von Männern und Frauen, statt von „männlich und weiblich gelesenen Personen“ zu sprechen, sich mit Israel solidarisieren, als Bahamas-Leser outen oder einen beliebigen anderen Angriffspunkt bieten.
Das Deutschland unter den Sozialstrukturen
Dabei gelingt es linken Männerbünden, bei allem Hang zum Partikularismus, noch eine dialektische Volte zu schlagen. Da der unausgesprochene Zweck von Männerbünden in der Durchsetzung der partikularen Interessen ihrer Mitglieder gegen die Partikularinteressen der restlichen Gesellschaft liegt, neigen ihre Mitglieder dazu, ihre Interessen zu verleugnen und als gesamtgesellschaftliche Wohltat auszugeben. Ihre partikularen Interessen erscheinen plötzlich als universales Ansinnen der gesamten Menschheit und dürfen folglich auch mit letzter Konsequenz gegen all jene durchgesetzt werden, die sich verweigern, ihnen zu ihrem Recht zu verhelfen. Am deutlichsten wird dies unter Linken in der Hausbesetzerszene, die jedesmal ein gewaltiges Brimborium um „Kultur“, „Freiräume“ und Gentrifizierung veranstalten, wenn es darum geht, dass sie selbst Gefahr laufen, ihre Wohnung zu verlieren.
Das heisst nicht, dass diese Partikularinteressen nicht auch gerechtfertigt sein können. So bleibt das Insistieren der Frauenrechtlerin, gefälligst nicht dauernd von Männern unterbrochen zu werden, ein gerechtfertigtes Anliegen, unabhängig davon, ob sie es als ihr persönliches Anliegen betrachtet oder als Kampf für die Befreiung der Frau vom Patriarchat überhaupt. Umgekehrt bedeutet die Omnipräsenz als Menschheitsinteresse verkleideter Eigeninteressen auch nicht, dass es diese nicht gebe und nicht auch zeitgleich mit diesen vertreten werden können. Was für den Männerbund aber entscheidend ist, ist das völlige Fehlen der Reflexion auf das Eigeninteresse und das selbstherrliche Untermogeln dieser partikularen Interessen unter allgemeingültige Ziele.
Nicht zuletzt deswegen ist die Ideologie des Männerbundes die Deutsche Ideologie und der Männerbund ist das Deutschland unter den Sozialstrukturen: „Wenn die nationale Borniertheit überall widerlich ist, so wird sie namentlich in Deutschland ekelhaft, weil sie hier mit der Illusion, über die Nationalität und über alle wirklichen Interessen erhaben zu sein, denjenigen Nationalitäten entgegengehalten wird, die ihre nationale Borniertheit und ihr Beruhen auf wirklichen Interessen offen eingestehen.“ 5
Männerbünde im Ausnahmezustand
Die Kinderbande in „Krieg der Knöpfe“ ist ein kindliches Spiel, das in ihrer Imitation des Erwachsenenlebens zum Ernstfall wird. Seinen Namen bezieht der Film davon, dass seine Protagonisten, im Kriegsspiel mit den Kindern des Nachbardorfes, einen Gefangen damit „entehren“, dass sie ihm die Knöpfe entwenden, was sie sich beim Militär abgeschaut haben. Als Einer der Gruppe sie im Verlaufe des Filmes verrät, überschreitet die Bande beinahe die Grenze zum Lynchmord. Yves Roberts deutet hierin bereits an, was allen Männerbünden eigen ist, deren Regeln die Kinder in seinem Spielfilm einstudieren. Der allseitige Wettbewerb, in dem sich die prekären Existenzen gegeneinander zu Kampfbünden zusammenschließen, ist nur leidlich zivilisiert. Solange die bürgerliche Gesellschaft stabil und sein Staat mit ausreichend Machtmitteln ausgestattet ist, sowie über genügend Legitimation verfügt, solange kann er die Männerbünde im Zaum halten, ihr zerstörerisches Potenzial wird sich nur in legalen Bahnen entladen, unter weitgehendem Gewaltverzicht. Wo immer dieser Zusammenhang aber bröckelt, wo immer er in die Krise gerät und der Ausnahmezustand herrscht, dort verwandelt sich der Männerbund ins Racket und wird offen terroristisch in seinen Mitteln des Wettbewerbs.
Dem können sich auch die männerbündischen Organisationen der Linken nicht entziehen, zumal sie nicht selten eine offene Sehnsucht nach dem Ausnahmezustand kultivieren: dass das gute Leben in Krawall und Bambule aufscheine ist so einer dieser unausgesprochenen linksradikalen Glaubenssätze, deren Kulminationspunkt sich in infantilisierter Revolutionsromantik und Gewaltästhetik zeigt. Aber selbst da, wo man sich als Kritiker des Racketwesens anpreist, also in der ideologiekritischen Linken, ist man vor den Konsequenzen der eigenen männerbündischen Organisationsform nicht gefeit, wähnt man sich doch außerhalb des allgemeinen linken Bandenunwesens und fehlt ein kritisches Verständnis seine Grundlagen.
Was tun?
Sich nun zurückzulehnen, zu konstatieren, dass der Fordismus der Geschichte angehört und deswegen auf eine Rückkehr zur alten Arbeiterbewegungslinken zu hoffen, wäre die falsche Konsequenz. Sie wäre zum einen falsch, weil es genug kritikables an der Arbeiterbewegungslinken gab und ein neuer Aufguss nur als Farce daherkäme. Sie wäre aber auch falsch, weil die Krise des fordistischen Vergesellschaftungsmodells nicht einfach ein geschichtlicher Rückfall war, sondern in neue Verhältnisse übergeleitet hat. Im Postfordismus gelten für die lohnabhängige Bevölkerung andere Spielregeln und dominieren andere Formen von Subjektivität, als vor der zweiten industriellen Revolution, die ja längst auch schon von einer dritten, der mikroelektronischen, abgelöst wurde und womöglich im Moment gerade schon von einer vierten gefolgt wird.
Das herumreiten auf dem kleinbürgerlichen Charakter der Männerbünde war denn auch nicht mehr als ein Modell zur besseren Veranschaulichung dieser Strukturen und längst drohen erst die Männerbünde, dann das Racket, der status quo der Gesamtgesellschaft zu werden. Zwischen Massenarbeitslosigkeit, Globalisierung und Flexibilisierung konnte Robert Kurz 6 völlig zurecht die Existenz einer Neo-Kleinbürgerlichkeit feststellen. Statt in einer Kernbelegschaft arbeitet selbst so manch klassischer Industriearbeiter heutzutage formal als Selbstständiger und auch der Arbeitslose hat wenig von herkömmlicher Gewerkschaftsarbeit – dafür aber viel von einem Racket, das ihn auf Kosten anderer aus dem Elend erhebt.
Die Frage, derer sich nun zu stellen bleibt, ist also Folgende: was kann eine kritische Linke, deren eigenes sozio-ökonomischen Fundament dem des Bandenwesens mindestens gleicht, diesem entgegen setzen? Reicht die kritische Reflexion überhaupt aus, um die eigenen Zusammenhänge vor der Konstitution als Männerbünde zu bewahren? Und wie kann dann eine emanzipatorische Perspektive aussehen, wenn der Zerfall in konkurrierende Banden bereits für das Jetzt konstitutiv ist?
Nicht zuletzt der Faschismus hat bewiesen, dass die Integration konkurrierender Männerbünde zu einer Gesamtbewegung gelingen kann. Aber die projektive Vereinigung der konkurrierenden Subjekte auf einen vereinenden Mythos kann selbst dann keine Option für ein linkes Programm sein, wenn es sich bei diesem Mythos nicht um den Führerkult, sondern z.B. wie bei Georges Sorel um den Generalstreik handelt. Und es bleibt fraglich, ob eine über sich selbst aufgeklärte Aufklärung im Sinne der Kritischen Theorie an seine Stelle treten kann, damit die daraus entstehende Bewegung nicht Faschismus sondern kosmopolitischer Sozialismus sei.
Ob sich auf dem Boden von Kleinbürgerlichkeit und Männerbünden überhaupt soetwas wie eine emanzipatorische Perspektive entfalten kann, muss an diesem Punkt eine offene Frage bleiben. Gelingt es aber nicht, die Vereinzelung im allgemeinen Wettbewerb auf breiterer Basis zu durchbrechen als in Form solcher Wettbewerbsgemeinschaften, dann bleiben allgemeine Emanzipation oder gar soziale Revolution vermutlich endgültig begraben.
Womöglich wird bei fortschreitender Prekarisierung und Deklassierung irgendwann ein Punkt überschritten, ab dem sich die Massen von Ausgeschlossenen erfolgreicher in einer Form allgemeiner Solidarität organisieren, statt im wechselseitigen Kampf um den immer beschränkteren Zugang zu Ressourcen auf Grundlage der herrschenden Gesellschaftsordnung. Mindestens ebenso wahrscheinlich ist ab dem Punkt aber auch der Zusammenbruch und der offene Krieg aller gegen alle, die Fortsetzung der kapitalistischen Konkurrenz mit anderen Mitteln. Die ideologiekritische Linke müsste dann alles dafür tun, dass die Deklassierten statt im Wettbewerb um immer weniger Partizipationsmöglichkeiten als revolutionäre Organisationen zueinander fänden, dass statt des weltweiten Bürgerkrieges der Verein freier Menschen die Bühne der Geschichte betritt, denn die Parole hieße dann: Sozialismus oder Barbarei.
von Ole Nickel
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1 Hier ist tatsächlich Klasse gemeint – nicht Milieu oder Schicht oder sonst ein soziologischer Begriff – sondern Kleinbürgertum als Klasse von Selbstständigen und Kleinunternehmern, die formal unabhängig sind, aber über zu wenig Kapital verfügen, um als Bourgeoisie zu zählen. Diese idealtypische Darstellung, in die sich sicherlich nicht alle linken Existenzen einhegen lassen, da der kleinbürgerliche Habitus ihrer Familien in ein lohnabhängiges Beschäftigungsverhältnis eingebettet bleibt, soll Modellcharakter beanspruchen, um die zugrundeliegenden Mechanismen deutlicher skizzieren zu können.
2 Inwiefern dies überhaupt möglich ist und wo Frauen von der kapitalistischen Gesellschaft trotz rechtlicher Emanzipation permanent wieder auf ihre weibliche Körperlichkeit und die mit ihr verbundenen Zuschreibungen zurückgeworfen werden, kann hier nicht erörtert werden.
3 Bonjour Tristesse #17/18 (Winter 2015)
4 Theodor W. Adorno, Aphorismus 132 in: „Minima Moralia“
5 Karl Marx, „Die deutsche Ideologie“, S.354.
6 „Der Begriff der Neo-Kleinbürgerlichkeit bezieht sich dabei keineswegs bloß auf eine ideologische Struktur ohne konkrete soziale Grundlage. Fatalerweise entspricht dem neo-kleinbürgerlichen Krisenbewusstsein bis in die abgerüstete marxistische Theorie hinein durchaus ein soziales Sein in der Krise und ihren Prozessen der Prekarisierung. Zwar haben wir es nicht mehr oder nur noch in geringfügiger Größenordnung mit dem klassischen Kleinbürgertum des 19. Jahrhunderts zu tun, also kleinen Warenproduzenten mit eigenen sachlichen Produktionsmitteln für lokale und regionale Märkte. Ebenso wenig trifft die Krise aber auf eine relativ homogene traditionelle, mehrwertschöpfende „Arbeiterklasse“, wie es sich der alte Traditionsmarxismus als langfristige Tendenz vorgestellt hatte; die Krise besteht ja gerade darin, dass mit dem Abschmelzen der kapitalproduktiven „abstrakten Arbeit“ diese traditionelle Arbeiterklasse ebenso zur verschwindenden Minderheit wird wie einst das traditionelle Kleinbürgertum.“
Robert Kurz, „Das Weltkapital“, S.337f