Heimat of late capitalism

Eine gesunde Portion Skepsis empfiehlt sich im Hinblick auf den Begriff der Heimat, um den es nachfolgend gehen soll, alleine schon, weil es sich um ein deutsches Idiom, also ein Wort, dass sich nicht ohne Bedeutungsverlust in eine andere Sprache übersetzen lässt, handelt. Dieser verstärkt sich, bedenkt man die völkischen Konnotationen des Begriffs und seiner Karriere im nationalistischen Jargon. Roger Behrens baut seine Ausführungen zum Heimatbegriff in der Jungle World Ausgabe 43 entsprechend richtig auf das Bonmot Jean Amerys auf, wonach Links da ist, wo keine Heimat ist. Vergegenwärtigt man sich indes, dass der Weltgeist gerade alles andere als auf der Suche nach dem ist, was Links sein könnte, sondern antifaschistische Organisation als Defensivstrategie das Gebot der Stunde ist, lohnt es, die Wirkmächtigkeit des Heimatbegriffs zu analysieren.

In einer bereits etwas älteren Annäherung an das, was Gegenstand des Wortes Heimat ist, macht die Anthropologin Ina-Maria Greverus drei Dimensionen aus, die Grundvoraussetzung einer jeden Empfindung von Heimat sind, nämlich Gemeinschaft, Tradition und Raum. Die beiden erstgenannten sozialen Verhältnisse werden gegenwärtig im Kontext der Diskussion um die sogenannten „Verlierer der Globalisierung“ verstärkt thematisiert. Diese diskursive Verschiebung ist darauf zurückzuführen, dass genau in jenen Regionen, die als Verlierer aus den wirtschaftlichen Transformationsprozessen der Globalisierung hervorgegangen sind, die höchsten Stimmanteile für rechtspopulistische Parteien zu finden sind. Der Rust-belt, zu Zeiten ökonomischer Prosperität noch ‘manufacturing belt’ genannt und Stammland der Demokratischen Partei, steht prototypisch für eine abgehängte Region, die sich einem populistischen Kandidaten – Donald Trump – zugewandt hat. Ähnlich verhält es sich mit den Departements im Norden Frankreichs und den ehemaligen durch Kohleabbau und Schwerindustrie geprägten Landstrichen Großbritanniens, die sich bei der französischen Präsidentschaftswahl und dem Brexit-Votum rechtspopulistische Positionen zu eigen gemacht haben. Auch in Deutschland wird das Erstarken der Alternative für Deutschland stark unter regionalen Gesichtspunkten („der rechte Osten“) betrachtet. Der Heimatbegriff erfährt durch diese Entwicklungen eine Repolitisierung. Nachdem das 2013 in Bayern geschaffene Heimatministerium lange Zeit als regionales Kuriosum christsozialer Prägung wahrgenommen wurde. Nun, nach der Bundestagswahl, und anscheinend als Reaktion auf die Verbreitung rechtspopulistischer Einstellungen in der deutschen Gesellschaft, wird eine Änderung des ministeriellen Ressortzuschnitts zu Gunsten eines Heimatministeriums diskutiert. Die policy-Dimension eines solchen Ministeriums hat, darauf lässt auch die Erfahrung mit dem Pendant in Bayern schließen, vor allem Aufgaben der Regionalentwicklung nach Maßgabe des Raumordnungsgesetzes zum Gegenstand. Insofern orientiert sich das politische Handeln im Rahmen des Heimatbegriffs an der dritten Greveruschen Dimension des Raums.

Heimat als Spatial Imaginary

Neben ihrer politischen Realität in der Ministerialbürokratie – also dem formellen Bedeutungszugewinn der Raumordnungspolitik in der kommenden Legislaturperiode – fungiert der Begriff „Heimat“ indes auch als Orientierungssemantik für breitere gesellschaftliche Entwicklungen. Dem Staatstheoretiker Bob Jessop nach lassen sich diese als (spatial) imaginaries, also “semiotic systems that frame individual subjects’ lived experience of an inordinately complex world and/ or inform collective calculation about that world” (Jessop 2010: 344) auffassen. Imaginaries sind demnach Anpassungsstrategien um die überkomplexe Realität überhaupt erfahrbar zu machen bzw. kognitiv zu verarbeiten. Spatial imaginaries wie „Heimat“ reduzieren also diverse soziale Phänomene auf räumliche Differenzen von hier und dort, nah und fern oder eben Heimat und Fremde. Der Cultural Political Economy-Ansatz (Sum & Jessop 2005) Diese imaginaries sind interessengeleitet: Akteure handeln demnach strategisch kalkulierend innerhalb von Strukturen, die „strategisch selektiv“ Handlungsmöglichkeiten einschränken, aber auch ermöglichen. Imaginaries nehmen darin die Rolle potenzieller Ideologien ein, die eine antizipierende und konstitutive Rolle in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen spielen. Insofern bedeutet die Schaffung eines Heimatministeriums eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses weg von anderen politischen Differenzen wie „Kapital und Arbeit“, oder aber auch in der räumlichen Perspektive von Dependenztheorien „Zentrum und Peripherie“ hin zu einer vagen Unterscheidung von dem was Heimat ist und was es nicht ist. Zu einer genaueren Klärung dessen, welche Funktion „Heimat“ als spatial imaginary hat, möchte ich es als sozialräumliches Verhältnis fassen, was auch der einführenden Annäherung von Greverus entspricht. Hierzu greife ich auf das TPSN-Framework (Brenner et al. 2008) zurück, das auf die sozialräumlichen Dimensionen Territorialität (territory), Place (Ort), Scale (Maßstabsebene) und Network (Netzwerk) aufbaut: Im folgenden wird das Schema entfaltet, und so die Ursachen und Konsequenzen – Wirtschaftskrise und Antiliberalismus – des Heimatbegriffs aufzuzeigen.

Territorialität

Für Territorialität (territoriality) als sozialräumliches Beziehungskonzept bedeutet dies eine Bedeutungszunahme des Grenzprinzips. Territorialität kann verstanden warden als „the attempt by an individual or group to affect, influence, or control people, phenomena, and relationships, by delimiting and asserting control over a geographic area. This area will be called territory“ (Sack 1986:19). Heimat lässt sich demnach als soziale Technik einer physischen Grenzziehung – auch wenn diese nicht manifest in Form eines Zauns oder einer Mauer erscheint – fassen. Diese Grenzziehung wird in Folge relevant für maßgebliche Unterscheidungen des Wir & die Anderen, Eigen & Fremd bis hin zu Zivilisation & Barbarei – wobei Heimat konsequenterweise immer positiv attribuiert wird. Mehr noch als an den deutschen Grenzen (dann auch zumeist als völkisches Maas-Memel-Etsch-Belt-Phantasma) wird dies an den europäischen Außengrenzen, an denen das EU-Grenzregime patrouilliert, und innerhalb deren Grenzen die Neue Rechte unter „Europa nostra“ die letzte Bastion des Abendlandes imaginiert und ihr Erbe für sich beansprucht deutlich. Im Hinblick auf die territoriality-Dimension des Heimatbegriffs bedeutet diese somit auch immer das Erstarken der Verblendungszusammenhänge Nation und Kultur, was eine progressive Antwort auf den Klassenwiderspruch in weite Ferne rückt.

Maßstabsebene

Eine zweite Annäherung an den Begriff der Heimat lässt sich anhand der Maßstabsebene (Scale) als sozialräumlicher Dimension vornehmen. So lässt sich in den Jahren seit Beginn der Finanzkrise ein Erstarken der regionalen, sowie – im breiteren Kontext der Globalisierung ein Bedeutungsgewinn der supranationalen Ebene feststellen. Als europäische Beispiele für einen stärkeren Regionalismus können die Unabhängigkeitsreferenden in Schottland, Katalonien und Venetien gesehen werden. Als vermeintlich kosmopolitischer Gegenentwurf zur Region als Heimat dient etwa der Bezug auf Europa als Heimat. Generell lässt sich eine Hierarchisierung der verschiedenen Maßstabsebenen feststellen. Gegenüber einer supranationalen Ebene, wie sie die EU in Europa darstellt, entstehen Ressentiments gegen ein abgehobenes, technokratisches Brüssel, das die Lebensrealität in den Regionen ignoriere und in ihrer Gesetzgebung alles über einen Kamm schere. Umgekehrt werde die Region schnell zur imaginierten Scholle von Hinterwäldlern deren geistiger Horizont am nächsten Gebirgskamm ende. Maßstabsebenen treten, beladen mit dem Heimatbegriff, also in Konkurrenz zueinander und laden zu Abstraktionen ein, die zu einer Hierarchisierung von Affekt und Aversion beitragen.

Ort

Als konkretes Bild manifestiert sich Heimat individuell zumeist als Ort (place). Um den diffusen Ortsbegriff konzeptionell zu fassen, bietet sich eine Annäherung an den Ortsbegriff anhand dreier Eigenschaften an: Seine physisch-materiellen Koordinaten (also das „Wo“ des Ortes), die Materialität des Ortes selbst (also dessen Gestaltung, Form und Architektur) und die – individuelle – affektive Aufladung des Ortes (also symbolische Zuschreibungen und emotionale Beziehungen zu dieser Materialität). Bezogen auf die erste Dimension kann ein prominenterer Heimatbegriff dazu führen, dass die Territorialität (s.o.) an Bedeutung gewinnt – aus „Home is where your heart is“ oder deren spätkapitalistischer Wendung es dort zu finden wo sich das Wifi automatisch verbindet, gewinnt die klare territoriale Abgrenzung dessen, was Heimat ist wieder an Bedeutung. Wenn der Bayerische Rundfunk in seiner Eigenwerbung MigrantInnen neben Biodeutschen „do bin i dahoam“ in die Kamera grinsen lässt, ist es ein Indiz für einen Heimatbegriff, der „Blut und Boden“ zu Gunsten einer affirmativen Identifikation mit dem „Where you’re at“ eintauscht.

Zweitens kann der Heimatbegriff auch einen Einfluss auf die Materialität eines Ortes haben. Der Neue Regionalismus als architektonisches Paradigma der Postmoderne mag sinnbildlich dafür stehen. Der traditionalistische beeinflusste Baustil berücksichtigt dabei lokale Gegeben- und Besonderheiten und reproduziert dabei spezifische örtliche Identitäten. Beim Berliner Stadtschloss lässt sich dabei etwa nachvollziehen, welche Bedeutung architektonische Projekte haben (vgl. http://distanz-magazin.de/versuch-ueber-das-berliner-stadtschloss/). An der Stelle des Palasts der Republik entsteht inzwischen ein Nachbau des Wilhelminischen Stadtschlosses. Dieses wird zukünftig das Humboldtforum beherbergen und mit jener, der Berliner Republik eigenen, Inklusivität die deutschen Kolonialverbrechen aufarbeiten. Das bedeutet „Heimat wieder positiv besetzen“ in der Architektur.

Eng einher mit diesen Projekten geht die – stilistisch antizipierte dritte Dimension des Heimatbegriffs – der „sense of place“. Einen Ort konkret als Heimat zu besetzen ermöglicht eine Unsicherheitsabsorbtion. Der Ort, den man sich zur Heimat erkoren hat, wird dann auch zur Scholle auf die man sich zurückziehen kann von den Unzumutbarkeiten der Globalisierung. Die entsprechende sozialräumliche Reaktion wäre ein Rückzug in Räume, die man mit „heiler Welt“ assoziiert. Denkt man die genannten Dimensionen zusammen, so wird die Heimat im konzeptionellen Rahmen des Ortes in Verbindung gebracht mit einem Absichern – gegen empfundene Bedrohungen außerhalb dieses Ortes wie auch einer Vergangenheit, die verloren zu gehen scheint. Menschen suchen und erzeugen diese Orte als intakten Gegenentwurf, als Persistenz einer besseren Zeit und eines besseren Hier.

Netzwerk

Ein erstarkender Heimatbegriff rahmt Netzwerke – die vierte Dimension des TSPN-Schemas –  stärker durch das Prinzip der räumlichen Nähe. Heimat als Ordnungsinstanz räumt für die Auswahl von Netzwerkpartnern der Kategorie Raum eine höhere Bedeutung ein. Das Imaginary Heimat dient hier zur Unsicherheitsabsorption – gerade in Krisen wie eben der seit 2007 anhaltenden Wirtschaftskrise. Folglich beeinflusst es die Selektion der Netzwerkpartner: Imaginiert wird eine Zeit vor der Krise (eine Chimäre kapitalistischer Vergesellschaftung). Dabei dient die Globalisierung als abstraktes Vexierbild alles Schlechten. Dem entgegengestellt wird das Kieznetzwerk oder die Nachbarschaft. Lokale Netzwerke treten an die Stelle des vormaligen Ziels einer Weltgemeinschaft. Unter dem Schlagwort des „Think global, act local“ ist dieses Prinzip auch bei Globalisierungskritikern und Postwachstumsökonomen anschlussfähig (vgl. hierzu Distanz Magazin #4). Beide Entwicklungen bedeuten eine Schwächung raumunabhängiger Netzwerke, wie sie dem liberalen Prinzip des Kosmopolitismus oder dem sozialistischen Prinzip der (internationalen) Klassensolidarität zu Grunde liegen

  Territory Scale Place Network
Beobachtbare Entwicklungen Abschottung Downscaling Traditionalismus Antiliberalismus;
Antikommunismus

Fazit

Im eingangs erwähnten Beitrag von Roger Behrens zitiert dieser Detlev Claussen: »›Heimat‹ ist eine exemplarische Kategorie des Verschwindens, eine Erfahrung, die lebensgeschichtlich gemacht wird, es ist eine raumzeitliche Koordinate, die man verlassen muss, in die man nie mehr zurückkehren kann, die man als ›Heimat‹ benennt (…) Heimat ist eine raumzeitliche Koordinate des Verlusts.« Dies mag für das individuelle betrauern, dass der Kirchturm nicht mehr so groß erscheint, oder ein Kanal jetzt den Fluss verdeckt, zutreffen. Gleichwohl wirken diese lebensgeschichtlichen Erfahrungen gerade in Krisenzeiten handlungsleitend. Sie dienen als Imaginaries eines Zustands, den es wieder herzustellen gilt, und dienen dem verunsicherten Subjekt des Spätkapitalismus dabei als vermeintlich sicherer Hafen. Diese gesellschaftlichen Entwicklungen sind eng verbunden mit politischen Entscheidungen und Prozessen. Die in der TSPN-Analyse erarbeiteten Konsequenzen – wenn auch weit davon entfernt eine erschöpfende Darstellung zu liefern – zeigen eine Reihe gesellschaftlicher Entwicklungen auf, die in der näheren Zukunft verstärkt auftreten werden. Der Heimat-Begriff steht im wechselseitigen Verhältnis zu diesen Entwicklungen. Einerseits verdankt er seine Prominenz sozialen Spannungen, denen er nicht als Grundlage dient. Zugleich verstärkt er diese jedoch weiter und bietet sich dabei zugleich als komplexitätsreduzierende Vorstellungswelt wie auch als Heilsversprechen einer humanen Zukunft an.

von Alf Philips

#onlyshe – zum Jargon der „echten Frau“

Vor kurzem erschien im Feuilleton der Jungle World ein Artikel,[1] dessen, den Inhalt recht gut zusammenfassender, Teaser lautete: „Die »Metoo«-Kampagne verharmlost Vergewaltigungen, weil sie sie in einer nivellierenden Masse von unterschiedlichsten, wenn auch insgesamt unappetitlichen [bis widerlichen] Vorfällen untergehen lässt.“ Paula Irmschler, da namentlich genannt, durfte zwei Wochen später „antworten“.[2] Irmschlers Text ist dabei deutliches Symptom für eine Debattenkultur, die den Namen nicht verdient, und wegen derer die Disko-Sparte der Jungle World allzu oft leider wirklich eher dem autistischen Aneinandervorbeigetanze heutiger Diskotheken ähnelt, was aber nicht dazu verführen sollte, zu denken, dass Texte dieser Art keine Wirkung entfalten würden oder dass dies nicht sogar dezidiert ihre intendierte Wirkung wäre. Die Hauptthese Irmschlers zur Verteidigung von #metoo wäre wohl die Behauptung: „Eine Debatte ist nicht obsolet, nur weil sie (auch!) von Fällen erzählt, die nicht justiziabel sind.“ Derart wird die behauptete „Gleichberechtigung“, welche den jeweiligen Phänomenen zukäme, schon sprachlich hergerichtet. Als wären es nicht nach kurzer Zeit schon vor allem nicht justiziable Fälle gewesen, von denen berichtet wurde, so dass die strafbaren Handlungen in der auf Masse setzenden Debatte schnell untergingen. Bei Irmschler liest sich dies folgendermaßen: „Keine Geschichte macht die andere weniger wert oder wertvoller.“ Dagegen wäre schon zu betonen, dass keine Geschichte, egal wie brachial, grausam diese sein mag, per se „wert“ oder „wertvoll“ ist. Dies wird sie erst durch die Verwertung, von der die Auswertung jene spezifisch qualitative Variante ist, während die Geschichten im Großen und Ganzen aktiv zu einem „Diskurs“ nivelliert und somit rein quantitativ verwertet werden. Continue reading „#onlyshe – zum Jargon der „echten Frau““

Der lange Arm der nationalsozialistischen Rechtsprechung. Über den Tod Philipp Auerbachs und die „zweite Schuld“ der Deutschen.

Am 16. April 1952 trat in München ein aus ehemaligen Nationalsozialisten bestehendes Gericht zu einer Verhandlung über Holocaustüberlebenden Philipp Auerbach zusammen. Den Vorsitz des dreiköpfigen Gerichts übernahm kurzfristig der ehemalige Pg. Josef Mulzer, der in der Zeit des Nationalsozialismus zum Oberkriegsgerichtsrat aufstieg. Auch einer der beiden Staatsanwälte sowie der psychiatrische Sachverständige, Wulf Ziehen, waren ehemalige Mitglieder der NSDAP. Ein Beisitzer des Gerichts war Mitglied der SA. Der Prozess wurde begleitet von einer antisemitisch gefärbten Kampagne gegen Philipp Auerbach. Der ungerechtfertigte Schuldspruch trieb ihn schließlich in den Suizid.
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Berichte aus dem Postfaschismus

In unregelmäßigen Abständen sollen auf diesem Blog nun aus der Zeit des Postfaschismus berichtetet werden. Postfaschismus hat dabei zweierlei Bedeutung. Zum einen ist damit die historische Phase vom Kriegsende bis Mitte der 1960er Jahre gemeint, die von GeschichtswissenschaftlerInnen auch immer wieder als erste ‚formative Phase‘ der Bundesrepublik bezeichnet wird. „Postfaschismus“ transportiert aber auch eine bestimmte theoretische Vorstellung über diese Zeit bzw. eine bestimmte Fragestellung: Inwiefern wurden faschistische Ideen und Vorstellungen sowie Akteure und Institutionen während der Nachkriegszeit transformiert und in die Bundesrepublik (re-)integriert? „Postfaschismus“ ist deshalb ein Begriff kritischer Geschichtswissenschaft, insofern er sich gegen die Lesart einer mit dem Nationalsozialismus gebrochenen Neugründung der Bundesrepublik stellt und damit den heute identitätsstiftenden Gründungsmythos der Bundesrepublik desavouiert.
Dass dieser Gründungsmythos in der Gegenwart noch immer virulent ist, zeigt beispielsweise die kaum widersprochene Aussage von der Leyens Anfang Mai 2017: „Die Wehrmacht ist in keiner Form traditionsstiftend für die Bundeswehr. Einzige Ausnahme sind einige herausragende Einzeltaten im Widerstand. Aber sonst hat die Wehrmacht nichts mit der Bundeswehr gemein.“[1] Diese Behauptung kann angesichts der personellen Kontinuitäten in den Leitungsebenen bei der Gründung der Bundeswehr, den Namen der Kasernen etc. nur als politische Forderung, keinesfalls aber als historische Aussage wahr sein.
Auch die schockierten und aggressiven Reaktionen auf die 2014 veröffentlichte Studie von Leonie Treber zum Mythos Trümmerfrauen zeigen ein tief verankertes Geschichtsbild angeblich anständiger Nachkriegsjahre auf. [2] Die methodisch überzeugende Studie arbeitete u.a. stringent heraus, dass der Anteil der Trümmerfrauen am Wiederaufbau und der Enttrümmerung deutscher Städte in keiner Relation zu ihrer im Geschichtsbild zugeschriebenen Bedeutung stehe. Für diese Enttrümmerung hingegen ist die Relevanz des von den Siegermächten subventionierten Fuhrparks an Räumungs- und Baumaschinen wesentlich höher zu gewichten. Die Studie erhielt breite Resonanz in den Feuilletons der großen Tages- und Wochenzeitungen und ablehnende Kritik von der Bevölkerung, die vor allem ihr jeweiliges Familiengedächtnis dagegen stellten.

Allerdings war die „Trümmerfrau“, dies zeigt die Studie ebenfalls, bis in die 1980er außerhalb Westberlins kein Bestandteil der Geschichtskultur in der Bundesrepublik, erhielt jedoch mit ihrer „Entdeckung“ rasche Verbreitung und verankerte sich durch die Ikonografie bald fest im Geschichtsbewusstsein der Deutschen. Dies fällt wohl nicht zufällig mit dem Regierungsantritt Helmut Kohls 1982 zusammen, da die Geschichtspolitik der Christdemokraten in der Ära Kohl bezweckte, die Deutschen mit neuem Patriotismus zu versorgen. Da die Vorgeschichte des Nationalsozialismus jedoch infolge der Aufarbeitungswelle der 1970er Jahre verbraucht war – man denke nur an die „Fischer-Kontroverse“ oder die Sonderwegsthese – konnte der Patriotismus kaum noch an die Traditionslinie des Kaiserreichs anknüpfen. Doch Wiederaufbau und Wirtschaftswunder erlaubten laut Edgar Wolfrum erstens, das Bild der „Erfolgsnation Deutschland“ glaubhaft zu verbreiten, dieses Bild zweitens mit den Tugenden von Stabilität, Konsens, Ordnung also: biederer Bürgerlichkeit zu verbinden und schließlich die Ära Adenauer in die Amtszeit Kohl zu verlängern. Insofern diente die geschichtspolitisch aufgeladene Vergangenheit als historisches Argument zur Legitimation der von Kohl geforderten geistig-moralischen Wende. Dazu mussten die 1950er-Jahre allerdings mit „Blattgold“ überzogen werden. Dadurch wurde mitunter die „Entkriminalisierung“ der deutschen Geschichte befördert,[3] was sich als bis heute wirkmächtiges Geschichtsbild im Bewusstsein der Deutschen festsetzte
Dieses falsche Bewusstsein zu hinterfragen und die „zweite Schuld“ (Ralph Giordano) dagegenzuhalten, soll Aufgabe des neuen Formats sein. Die kurze Einleitung zeigt bereits, dass die Thematisierung des Postfaschismus nicht allein die Phase der bundesrepublikanischen Gründung – ihre sozialen, wirtschaftlichen und ideengeschichtlichen Faktoren – in den Blick nehmen, sondern auch immer wieder ihr Fortleben in der Geschichtskultur der Berliner Republik sowie ihren Weg dorthin behandeln muss.

Teil 1:
In der FDP formiert sich zwischen 1950 und 1953 ein Netzwerk ehemaliger Ranghoher NS- und SS-Funktionäre mit dem Ziel, die Bundesrepublik zu stürzen. Aufgehalten wird sie vom britischen Geheimdienst.
Teil 2:
Der Holocaustüberlende Philipp Auerbach engagierte sich als Landeskommissar in Bayern für die Entschädigung von Opfern des NS-Regimes und kämpfte dafür, die Identitäten untergetauchter NS-Funktionäre aufzudecken. Vielen Politikern war sein Engagement ein Dorn im Auge. Er wurde verhaftet und vor ein aus ehemaligen NSDAP und SS Mitgliedern bestehendes Gericht gestellt, das ihn trotz haltloser und Anschuldigungen zu mehreren Jahren Haft verurteilte. Gepaart war diese Verhandlungen mit einer antisemtischen Kampagne gegen seine Person durch die Presse. Nach dem Urteilsspruch nahm sich Philipp Auerbach eine Überdosis Schlaftabletten, der er am 16. August 1952 erlag.


Distanz Magazin

[1] Zitiert nach: http://www.suedkurier.de/nachrichten/politik/Von-der-Leyen-Wehrmacht-nicht-traditionsstiftend-fuer-Bundeswehr;art410924,9239463
[2] Leonie Treber, Mythos Trümmerfrauen. Von der Trümmerbeseitigung in der Kriegs- und Nachkriegszeit und der Entstehung eines deutschen Erinnerungsortes. Essen 2014. Falls tl,dr, dem ist die Rezension von Stephan Scholl nahezulegen: http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-22991
[3] Vgl. Edgar Wolfrum, Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. 1949-1989. Phasen und Kontroversen, in: Petra Bock, ders. (Hg.) Umkämpfte Vergangenheit. Geschichtsbilder, Erinnerung und Vergangenheitspolitik im internationalen Vergleich. Göttingen 1999, S. 55-82. Hier S. 74.

Es muss nicht immer Bomber Harris sein. Britische Sicherheitskräfte und die Nazis in der FDP.

Im November 1952 erscheint ein Artikel über den SS-Mann, Staatssekretär im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda und den laut Hitlers Testament designierten Nachfolger Goebbels als Reichspropagandaminister, Werner Naumann, in der Stockholmer Zeitung Dagens Nyheter. Voller Einzelheiten schildert der Artikel das von ihm aufgebaute und aus über 100 ehemaligen ranghohen NS- und SS-Funktionären bestehende Netzwerk, das seit einigen Jahren bereits die FDP unterwanderte und mittlerweile den rechten Flügel mehrerer Landesverbände – allen voran Nordrhein-Westfalen – beherrschte und als langfristiges Ziel den politischen Umsturz samt Wiederkehr eines nationalen Sozialismus hegte. Continue reading „Es muss nicht immer Bomber Harris sein. Britische Sicherheitskräfte und die Nazis in der FDP.“