Im November 1952 erscheint ein Artikel über den SS-Mann, Staatssekretär im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda und den laut Hitlers Testament designierten Nachfolger Goebbels als Reichspropagandaminister, Werner Naumann, in der Stockholmer Zeitung Dagens Nyheter. Voller Einzelheiten schildert der Artikel das von ihm aufgebaute und aus über 100 ehemaligen ranghohen NS- und SS-Funktionären bestehende Netzwerk, das seit einigen Jahren bereits die FDP unterwanderte und mittlerweile den rechten Flügel mehrerer Landesverbände – allen voran Nordrhein-Westfalen – beherrschte und als langfristiges Ziel den politischen Umsturz samt Wiederkehr eines nationalen Sozialismus hegte.
Vorspiel
Als zweites führendes Mitglied dieses Netzwerkes nennt der Artikel der Artikel den Düsseldorfer Landtagsabgeordneten und Vorsitzenden des außenpolitischen Ausschusses der FDP, Ernst Achenbach.. In seinem Essener Büro „sind der frühere Reichskommissar in Dänemark, Dr. Werner Best, und der frühere SS-Obergruppenführer Professor Franz Alfred Six tätig.“ Ernst Achenbach war als Leiter der Politischen Abteilung der Botschaft in Paris während der Besetzung Frankreichs unter anderem für die planvolle Deportation der Juden aus Frankreich zuständig. Weitere Mitglieder des Netzwerks waren u.a. der ehemalige Reichsstudentenführer und zeitweise Gauleiter von Salzburg, Dr. Gustav Scheel, der ehemalige SS-Brigadeführer, Paul Zimmer, der als Beamter in der Wirtschafts- und Verwaltungsabteilung der SS arbeitete, welche mit der Organisation der Konzentrationslager betraut war, und der Mediziner Dr. Heinrich Haselmeyer, der als SA-Mann am Hitler-Putsch von 1923 teilnahm und Bücher zum Thema Rassenhygiene herausgab.
„Außenpolitisch“, so der Artikel des Dagens Nyheter weiter, „lehnen die Nazis den Generalvertrag [1] und die Europa-Armee ab, weil sie Deutschland nicht genügend Unabhängigkeit geben. Sie streben ein wiedervereinigtes Deutschland mit eigener Armee an, das im Spannungsfeld zwischen Ost und West die Situation zu Zugeständnissen von beiden Seiten ausnützen könnte. Auf diese Parole hofft man alle Neutralisten und Anhänger des dritten Standpunktes in Deutschland sammeln zu können. Naumann und Konsorten weisen den Antisemitismus als Bestandteil der kommenden Politik ab, denn dieser hat sich als schlechtes Geschäft erwiesen. Das vom Naumann-Kreis angestrebte Bündnis von Rechtsextremen und Nationalsozialisten hatte seinen historischen Vorläufer im Harzburger Bund, der ein nur kurzzeitig existentes Bündnis antidemokratischer Gruppen (darunter Stahlhelm, NSDAP, DNVP, Alldeutscher Verband) aus den frühen 1930er-Jahren war. Der Artikel stellte fest, dass der rechte Flügel der FDP „auf dem Weg zu einer neuen Harzburger Front weit fortgeschritten“ sei.[2]
„Pflicht nach rechts“
Diese Informationen lancierte der britische Geheimdienst an die Zeitschrift, nachdem er die gestiegenen Bewegungen der (ehemaligen) Nazis in der früheren britischen Zone bereits seit einigen Monaten argwöhnisch beäugte. So trat in Nordrhein-Westfalen Idee einer „Befreiungsaktion“ von „Kameraden“ aus dem britischen Kriegsverbrechergefängnis in Werl seit einigen Wochen aus dem engen soldatischen Kreis. So initiierte im November 1952 die „Abendpost“ eine „Weihnachtsbürgen-Aktion“. Chefredakteur der Abendzeitung war Emil Frotscher, der während des Zweiten Weltkriegs schon Erfahrung als Chefredakteur der Besatzungszeitung „Deutsche Zeitung in den Niederlanden“ sammelte. Über 200 Deutsche warben in dieser „Weihnachtsbürgen-Aktion“ um die auf Weihnachten begrenzte Freilassung inhaftierter Kriegsgefangener. Sie boten sich zudem für deren „Platz“ in alliierten Gefängnissen als Bürgen an, obwohl kurz vorher zwei inhaftierte Kriegsverbrecher türmten. Inhaftiert waren in Werl beispielsweise die KZ-Aufseherin Hertha Bothe oder der wegen seiner Beteiligung am Massaker von Marzabotte zu Tode verurteile Generalleutnant der Waffen-SS, Max Simon. Darüber hinaus war den britischen Geheimdiensten unklar, wohin die Mitglieder des 1951 wegen interner Querelen zerfallenen Nazisammelbeckens „Bruderschaft“ sowie die Funktionäre der wenige Monate zuvor verbotenen, offenen nazistischen Sozialistischen Reichspartei sich bewegten.
Dementsprechend bemühten sich der britische Geheimdienst sowie der britische Hohe Kommissar, Ivone Kirkpatrick, zunächst vergebens, den deutschen Verfassungsschutz für die rechten Umtriebe zu sensibilisieren. Vermutlich um die deutsche Aufmerksamkeit auf die nazistischen Umtriebe zu lenken und damit auf den Geheimdienst unter Handlungsdruck zu stellen, übergaben sie einige Informationen über das Netzwerk ehemaliger Nazi-Größen in der FDP an die Stockholmer Zeitschrift.
Wie zum Beweis der Relevanz der Naumann-Gruppe ging der rechte Parteiflügel der FDP gestärkt aus dem Bundesparteitag vom 20.-22. November 1952 in Bad Ems hervor, indem es ihm gegen den Widerstand des liberalen, südwestdeutschen Flügels gelang, ihr „Deutsches Programm“ gegen das „Liberale Manifest“ durchzudrücken, wodurch sich die FPD als Partei rechts der Union etablierte. Die Redakteure dieses Programms waren unter anderem Werner Best und Alfred Six, die beiden im Artikel des Dagens Nyheter genannten Mitarbeiter der Kanzlei Ernst Achenbachs. August Martin Euler, während des Nationalsozialismus u.a. als Polizist der Waffen-SS tätig, forderte ebenso wie der auf dem Bundesparteitag zum stellvertretenden Parteivorsitzenden avancierte Friedrich Middelhauve die „Pflicht nach rechts“ und die Bildung eines „dritten Blocks“ als „nationale Sammlungsbewegung“.
Die Wahl des nicht vorbelasteten Middelhauve in den Parteivorsitz war eines der vom Naumann-Kreis anvisierten Etappenziele. Da die FDP an der Regierung beteiligt war, Naumann aber davon überzeugt war, dass viele Mitglieder der FDP bei einem nationalistisch-revisionistischen Kurs auf seiner Seite stünden und die FDP die einzige dogmatisch nicht gebundene, große Partei war, erhoffte sich der Naumann-Kreis über das Vehikel FDP zügige Einflussnahme im politischen Zentrum der Bundesrepublik. Deshalb beschloss der Naumann-Kreis, die FDP zu infiltrieren und zu dominieren. Als Ergebnis für die Bundestagswahl 1953 sollte Middelhauve den Posten des Vizekanzlers erhalten. Spätestens 1957 wollte Naumann selbst wieder die politische Arena betreten. Als charismatischer Führer und gestützt auf eine nationalsozialistische Massenbewegung wollte er schließlich das parlamentarische System durch einen weiterentwickelten nationalen Sozialismus ersetzt sehen.
Zugriff
Die Sensibilisierung des Verfassungsschutzes durch den britischen Geheimdienst lief ins Leere. Zwar sammelte die Düsseldorfer Informationsstelle auch ohne britische Beteiligung Material über den Naumann-Kreis und tauschte Informationen mit den Briten aus, doch das Bundesamt kam zu der Auffassung, dass weder ein akuter Anlass zum Einschreiten bestehe, noch die polizeilichen und juristischen Mittel zum Eingreifen vorhanden wären.
Kirkpatrick beschloss im Dezember 1952, Adenauer von den Bewegungen und Zielen des Naumann-Kreises zu unterrichten und ihn zur Verhaftung der Rädelsführer aufzufordern. Dazu traf er sich mit dem Staatssekretär Lenz, der umgehend die Informationen an Adenauer weitergab. Adenauer, der durch den Rechtsruck der FDP das politische Programm der Westanbindung und folglich die dünne Mehrheit in der Regierungskoalition gefährdet sah, übte bald Druck auf den Bundesvorsitzenden der FPD und Vizekanzler, Franz Blücher, aus und teilte ihm mit, dass er „von einer auswärtigen Macht dringend gebeten worden [sei], dafür zu sorgen, dass Naumann baldmöglichst verhaftet wird.“[3]
Auch der Parlamentarisch-Politische Pressedient der Sozialdemokraten berichtete kurz vor Weihnachten 1952 über den „Naumann-Club“ und sparte nicht mit den Namen einiger gewichtiger Akteure des Netzwerks. Middelhauve und Achenbach wurden angesichts der Bewegungen unruhig, weshalb sie sich beim Parteifreund und Justizminister Thomas Dehler versichern ließen, dass rechtliche Schritte gegen den Naumann-Kreis nicht möglich seien. Auch Naumann selbst plante für Anfang Januar 1953 ein Treffen mit dem „entschiedenen Liberalen“, um sich durch ein öffentlichkeitswirksames Treffen mit einem Regierungsmitgliedals seriösen Demokraten darstellen zu können. Doch das Treffen wurde von Dehler nach einem Gespräch mit Adenauer und dem britischen Hohen Kommissar Kirkpatrick in letzter Minute abgesagt.
Nunmehr hoffte Naumann auf ein Treffen mit dem Präsidenten des Bundesverfassungsschutzes, Otto John, den er nach mehreren vergeblichen Versuchen zu einem Termin für den 16. Januar 1953 überzeugen konnte. Doch auch zu diesem Treffen ist es nie gekommen: In der Nacht zum 15. Januar 1953 griffen britische Sicherheitsoffiziere zu und verhafteten in drei deutschen Städten – Düsseldorf, Solingen und Hamburg – sechs Ranghohe Mitglieder des Naumann-Kreises, darunter Werner Naumann selbst.
Nachspiel
Obwohl bereits Monate vor dem Zugriff des britischen Sicherheitsdienstes mehrere Medien über den Naumann-Kreis berichteten und damit den Deutschen durchaus Wissen über die Umsturzpläne der Nazis bekannt sein konnten, war die Reaktion der deutschen Presse überrascht bis aggressiv. In der FAZ wurde nur von der Verschwörung in Anführungsstrichen geschrieben und stattdessen davon geraunt, dass eine Aufrüstung der Bundesrepublik verhindert werden solle oder gar wirtschaftliche Interessen gegen Naumann selbst handlungsleitend waren, da Naumann Geschäftsführer einer Exportfirma war und England sich schon immer für deutsche Exporte interessiert habe.
Der sich beleidigt gebende Justizminister Dehler bedauerte öffentlich das offensichtlich mangelnde Vertrauen in die Bundesrepublik, wenn außerdeutsche Geheimdienste in Westdeutschland Operationen durchführen, die eigentlich Sache der deutschen Beamten seien. Damit ignorierte er die von ihm selbst angegebenen unzureichenden juristischen Mittel der deutschen Behörden, sprach aber ganz im Sinne des Volksmunds: Laut einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach sprachen sich 47 Prozent der Deutschen dafür aus, dass man gegen die Verhaftungen der Engländer protestieren sollte. Lediglich ein Fünftel sah im Zugriff der britischen Besatzungsmacht keinen Anlass zu Protest.
Nachdem der Justizminister umfassende Einsicht in die Materialien zum Netzwerk hatte, schwenkte er auf Adenauers Kurs ein, der den Zugriff der Briten begrüßte und ein Urteil über die Rädelsführer durch deutsche Gerichte forderte. Adenauer konnte auch Kirkpatrick davon überzeugen, dass ein deutsches Gericht Naumann und Konsorten wegen Bildung einer verfassungsfeindlichen Vereinigung und „Geheimbündelei“ verurteilen könne, weshalb die Gefangenen an deutsche Behörden weitergegeben wurden. Ende März beantragte der Oberbundesanwalt Haftbefehl gegen Naumann und den Kern der in der Bevölkerung mittlerweile „Gauleiter-FDP“ genannten Gruppe. Doch dieses Urteil sollte nie gefällt werden: Im Sommer 1953, kurz nachdem die am Verfahren beteiligten Richter den Verdacht einer strafbaren Verbindung, bzw. Vereinigung infrage stellten, wurde Naumann ohne Kaution aus der Untersuchungshaft entlassen. Am 3. Dezember 1954 setzte die Justiz ihren Schlussstrich unter die „Naumann-Affäre“, indem die Richter die Eröffnung des Hauptverfahrens ablehnten und die gesamte Gruppe außer Verfolgung setzten, da in den Akten zum Fall nirgends zum Ausdruck gekommen sei, dass sie die Wiedererrichtung eines nationalsozialistischen Führerstaats anstrebten. Dagegen lasen die Richter sogar vereinzelt Kritik an einigen Maßnahmen des „Dritten Reiches“ aus den Dokumenten.
Die vom Naumann-Kreis ausgehende Gefahr war jedoch durchaus real. Das aus über 100 Personen bestehende Netzwerk hatte sich seit Jahren auf gemeinsame Ziele geeinigt, weshalb es nicht durch Interessens- und Zielkonflikte gelähmt war. Des Weiteren war die Gruppe über´ihre Mitglieder in mehreren rechtsgerichteten Gruppen und demokratischen Parteien aktiv und konnte sogar stellenweise bis auf die Regierungsebene einwirken. [4]. Da die deutschen Behörden allerdings sowohl das Potential der Verschwörer herunterspielten, als auch keine rechtlichen Mittel sahen, die Verschwörung aufzudecken, war das Eingreifen britischer Sicherheitskräfte durchaus notwendig. Ohne dieses handfeste Fortwirken der britischen Besatzungsmacht in der Bundesrepublik wäre die politische Stabilität der Demokratie durchaus gefährdet gewesen. Seit der 1954 vollzogenen Ratifizierung des bereits von Adenauer 1952 unterschriebenen Grundlagenvertrages ist ein solcher Eingriff rechtlich jedoch nicht mehr gedeckt. Es gehört wohl zur Ironie der Geschichte, dass sich gerade der Naumann-Kreis gegen die Ratifizierung dieses Vertrags stellte. Für AntifaschistInnen heißt die Lehre aus der Geschichte: Es muss nicht immer Bomber Harris sein.
Benjamin W.
[1] Der Generalvertrag diente zur Überbrückung der Phase zwischen Kapitulation und endgültigem Friedensvertrag. Mit dem 1952 von Adenauer zwar unterschriebenem, aber noch nicht ratifizierten Vertrag wurde die Besatzungszeit aufgehoben. Allerdings behielten sich die Westalliierten noch einige Rechte vor, etwa das Recht auf Telefon- und Postüberwachung sowie das Rechte der Geheimdienste, sich frei in Deutschland bewegen zu dürfen. Mit der Unterzeichnung des Generalvertrags entschied sich Adenauer gegen die Wiedervereinigung zugunsten der Westanbindung.
[2] Zu den Zitaten des Dagens Nyheter sowie die Beschreibung der zentralen Personen im Naumann-Kreis sehe Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, 1996/2012, S. 364-365 und 361.
[3] Zit. Nach Frei, Vergangenheitspolitik, S. 368.
[4] Zu diesem Urteil kommt Beate Baldow in ihrer Detailreichen Studie zu den Zielen, Entwicklungen und dem Ende des Naumann-Kreises. Vgl: dies., Episode oder Gefahr? Die Naumann-Affäre (= Dissertation). Berlin 2012, S. 305.